Wenn wir alle Zahlen wären, selbst dann wären wir vom Geheimnis umgeben!
Man kann immer weiterzählen. Die meisten Zahlen kann man nicht hinschreiben. Mathematische gesehen gibt es mehr als eine Unendlichkeit. Mich faszinieren die Grenzen der Mathematik. In diesem Artikel: Eine Übung, wie nüchterne Mathematik und fasziniertes Staunen zusammengehen können und mein Erinnerungsruf, dass Gott ganz schön mathematisch ist.
In manchem Thriller werden alle Menschen dadurch erniedrigt, dass sie statt eines Namens nur eine Nummer sind. In manchem Science-Fiction-Roman ist alles, was wir meinen zu tun, in Wirklichkeit von einem Supercomputer und seinen Bits und Bytes gesteuert. Beide Male dieselbe Vision: die ganze Welt nur Zahlen, auch ich selber nur eine komplizierte Zahl – für mich und wohl die meisten von uns eine Horrorvorstellung. Aber selbst wenn es so wäre, deutet viel in der Welt der Zahlen auf etwas Größeres, auf etwas Transzendentes, jenseits eines grausamen Weltdiktators oder kühlen Programmierers. Das Unendliche ist überraschend reichhaltig in der Zahlenwelt zu finden.
Unendlich groß und unendlich klein
Normalerweise erstrebt man das Unendliche, indem man immer höher in der Zahlenreihe nach oben steigt. Es geht immer weiter hinauf. Wer meint, die größte Zahl zu haben, legt einfach nochmal eine Eins hinzu. Das Unendliche ist aber nicht nur das Große, sondern gleichzeitig das unendlich Kleine. Man erfasst das unendlich Kleine, indem man die große Zahl in einem Bruch nach unten setzt. Den Tausenden entspricht das Tausendstel, der Million der Bruch „Eins durch eine Million“. Er ist verschwindend klein, aber es geht noch kleiner: „Eins durch (eine Million und Eins)“. Ein berühmter Spruch der christlichen Tradition lautet „Durch das Größte nicht eingeschränkt, durch das Kleinste umschlossen zu werden ist göttlich.“ Man könnte auch sagen: „… das ist unendlich“. Die Emotion, die hinter dem Satz steckt, ist etwa die:
Wie wunderbar groß ist die Welt, aber sie ist noch nicht Gott.
Auf ein wie kleines Segment der Wirklichkeit ich mich zurückziehe, ich komme nicht los von Gott. Auch diese Emotionen stecken in der Mathematik: Wie lange ich auch zähle, nie komme ich an ein Ende. Wie auch immer eine vereinzelte Nummer (unter so vielen) vereinzelt bleibt, es gibt immer eine Zahl, die mir näher ist, als die mir bekannte Näheste.
Nicht durch Ziffern zu erfassen
Das alles sind die Bilder des Zählens. Mathematik aber ist reicher, es gibt Zahlen beschränkter Größe, die man durch Aufzählen ihrer Ziffern nicht erreichen kann. Die Kreiszahl Pi ist ein Beispiel dafür. Sie ist nicht identisch mit 3,14 oder mit 3,14159. Auch wenn man 1.000.000 Ziffern hinterm Komma richtig schreibt, hat man die Zahl nicht erwischt. Man kann nachweisen, dass es keine Regel gibt, wie die Ziffern nach dem Komma weitergehen. Jede weitere Ziffer, die man durch mühsame geometrische und mathematische Arbeit herausbekommt, ist unvorhersagbar. Die Unendlichkeit ist schon verzaubert in einer solchen Zahl drin. Es gibt sehr sehr viele davon: Am bekanntesten sind die Wurzel 2, die Diagonale des Quadrats mit Seitenlänge Eins, oder die Eulersche Zahl e, mit deren Hilfe man schreckenerregende Pandemieverläufe beschreibt. Der Unvorhersagbarkeit der nächsten Ziffer entspricht eine Art Individualität der Zahl. In jeder Zahl spiegelte sich auf einmalige Weise das Unendliche.
Unendlicher als unendlich
Das alles ist erst der Anfang des mathematischen Erkundens des Unendlichen. Hier möchte ich nur noch einen Schritt weiter gehen. Es gibt nicht nur eine Unendlichkeit, sondern mindestens noch eine zweite. Die gewöhnliche Unendlichkeit lässt sich durch Zählen erreichen, immer eines mehr – über oder unter dem Bruchstrich. Aber die Unendlichkeit einer Zahlenmenge, welche Pi und Wurzel 2 und e enthält, lässt sich nicht mehr auf diese Weise zählen, sie ist überabzählbar.
Ich habe so im Ohr, dass Philosophen und Theologen gern sagen, irgendwann kann man gar nicht mehr über das Unendliche reden, weil uns das unbegreiflich wird. Aber Mathematiker reden darüber, dass es nicht nur eine Unendlichkeit gibt. Sie wissen, was sie damit meinen. Sie haben keine Befürchtungen, dass es unverständlich wird. Ihr Vertrauen darauf, dass das klare Denken über das Unendliche das konkrete Leben in dieser Welt intensiviert, hat sich durch tausende wissenschaftliche und technische Anwendungen bestätigt.
Über eine Zahlenwelt hinaus
Ich nehme nicht an, dass das Unendliche in der Welt der Mathematik mit Gott gleichzusetzen ist. Aber ein Gott, dem die Unendlichkeit der Mathematik nicht dienstbar ist, ist mir zu klein. Ich vergegenwärtige mir die Welt der Sklaventreiber, die den Menschen Nummern geben, und des Weltcomputers, der mich angeblich programmiert hat, und stelle mir vor, wie das Unendliche ihnen einen Strich durch die Rechnung macht.
Illustrationen: © bashta/iStock.com
Gott in den MINT-Fächern
Dieser Artikel gehört zu einer Artikelserie, die sich mit der Frage nach Gott in der Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik befassen.
Bereits erschienen sind:
Gott in allen Dingen suchen
von Hilde Domgörgen
Gott neu sagen
von Peter Hundertmark