Annie Dillard

Sinn  

Vergessen und Erinnern

Wie flüchtige Momente und Naturerlebnisse unsere Wahrnehmung prägen

Ich vergesse meine Wahrnehmungen oft genug. Hätte ich diesen oder jenen kurzzeitigen Eindruck nicht verdrängt, wäre ich hier und da nicht in die Falle gelaufen oder wäre anderen Menschen mehr gerecht geworden. Hätte ich nicht diese und jene überwältigende Schönheit einfach nach dem Sehen vergessen, weil da irgendwo ein Problem war, wäre ich vielleicht einen ganzen Tag oder noch länger verzückt gewesen.

Dieses Phänomen des Vergessens dessen, was wir wahr-nehmen, geht tiefer: Wir vergessen unsere Träume. Wir vergessen, so formulieren manche Menschen mit spirituellen Erfahrungen, die himmlische Heimat. Nicht notwendig, dass der Himmel in einer nicht-physikalischen Welt ist: Wir vergessen das bedingungslose Geliebtsein von Gott. Oder für Platons Schüler: Wir vergessen, dass wir die ewigen Ideen vor der Geburt gesehen haben.

Wir vergessen insbesondere, wenn wir schlafen – und empfinden es bis zu einem gewissen Grad als heilsam.

Wie vergessen wir?

Es ist eine intensive Erfahrung, wenn wir weniger darauf schauen, was wir vergessen, sondern wie wir vergessen. Dazu hilft eine Naturbeschreibung von Annie Dillard. Sie erzählt im Modus des Wiedererinnerns vom Vergessen:

„Der Wind bläst mächtig vom Westen; die Sonne kommt und geht. Ich kann sehen, wie sich der Schatten von mir auf dem Acker einheitlich verdüstert und ausbreitet wie eine Seuche. Alles wirkt so grau in grau, dass ich erstaunt bin, überhaupt noch Dinge unterscheiden zu können. Und plötzlich läuft das Licht über Land wie eine Sturzwelle, und die Bäume hinauf, und ist im Nu wieder weg: Ich denke, ich bin auf einmal blind oder tot. Als es wiederkommt, das Licht, hältst du die Luft an, und wenn es bleibt, vergisst du es, bis es wieder weggeht.“

Der englische Originaltext ist von 1974, die Übersetzung von 1996. Wer von dem Text genug gelesen hat, überspringe die zweite Version derselben Übersetzerin Karen Nölle Jahre später 2016:

„Der Wind bläst stark vom Westen; die Sonne kommt und geht. Ich kann sehen wie der Schatten vor mir auf dem Acker tiefer wird und sich ausbreitet wie eine Seuche. Alles wirkt so düster, dass ich erstaunt bin, überhaupt noch Einzelheiten unterscheiden zu können. Dann fließt auf einmal das Licht übers Land wie eine Woge, erfasst die Bäume und ist im Nu wieder weg: Ich denke, ich bin blind geworden oder gestorben. Wenn es wiederkommt, das Licht, hältst du die Luft an, und wenn es bleibt, vergisst du es, bis es wieder verschwindet.“

Die Erfahrungen mit Wind, Wolken, Sonne und Acker – normalerweise sind sie uns nicht präsent. Meist sogar vergessen. Manchmal ist da aber ein Anlass, sich zu erinnern. Ich bin nach fast einem Jahr auf den Philippinen nach Ludwigshafen zurückgezogen und wohne nun wieder im sechsten Stock des Heinrich Pesch Hauses. Wir haben eine Terrasse, da sehe ich jetzt wieder mit veränderter Aufmerksamkeit viele Lichtspiele, Farben und Wolken.

Meistens ziehen die Schatten ja langsam – aber eben auch manchmal einheitlich, wie wenn ein Vorhang zugezogen wird: Was waren das für besondere Momente vor manchem Gewitter, wo wir wunderlicherweise oft das Beobachten hintenan stellten, beschäftigt, dass unsereins oder irgendein Utensil nicht nass wird. (Stattdessen schaue ich dann, wenn ich unter Dach und hinter einem sicheren Glas sitze, die Zeichen der Gewalt: Blitz und Donner.)

Schnelle Schatten

Schnelle Schatten, die etwas zudecken, erinnern mich nicht an eine Seuche. Alle Generationen in Deutschland erlebten ja nur die Corona-Seuche, zu der man nicht mal Seuche zu sagen wagte. Gegen die Exponentialfunktion, mit der wir das Virus zu buchstabieren lernten, scheint jede Wolkenbewegung sehr behäbig – vielleicht ist es aber mit dem Schatten manchmal anders. Wenn mit ihm Dunkelheit kommt und Angst einflößt, vielleicht weil die Orientierung verloren gegangen ist oder das Sicherheitsgefühl schwindet. Doch das ist der falsche Augenblick, Angst zu haben. Wir sind nach der Seuchenzeit, wir dürfen stauen, dass wir scharf sehen können.

In Dillards Beschreibung folgt jetzt die Überraschung, die so viele aus dem Naturbeobachten kennen – und gleichfalls oft vergessen. Ja, auch ich habe das schon gesehen, die Sturzwelle von Licht, die schnell kommt und wieder verschwindet. Oder das Licht, das auf einer Wasserwelle tanzt. „Nichts Besonderes“, so habe ich das schnell weggeschoben. Aber war da nicht im Beobachten selber etwas anderes?

Dillards Sprache darüber ist schon so schön, dass da zumindest etwas anderes gewesen sein könnte. Ihre Beschreibung lässt nicht zu, dass etwas Harmloses passiert sein könnte: „Ich denke, ich bin auf einmal blind oder tot“ (I think I’ve gone blind or died.) Ob es dabei etwas zu denken gibt, bezweifle ich. Ich vermute, hier ist nur auf das „Denken“ verwiesen, weil der Bewusstseinszustand bei diesem besonderen Wahrnehmen klar wie beim Denken ist und nicht vernebelt wie beim Beobachten der Schatten.

Aber wenn es stimmte, dass ich blind geworden bin – dann hätte ich die Lichtwelle nicht über die Bäume gleiten sehen, dann hätte der Sturzbach von Helle mich nicht mitreißen können. Wenn es stimmte, dass ich tot bin, würde noch weniger passieren. Trotzdem, nehme ich mal an, hatte Dillard diese Erfahrung. Trotzdem, wage ich mich sanft zu erinnern, passen ihre Worte. Es passierte etwas in Richtung ihrer Worte, als ich einmal die Sturzwelle von Licht die Bäume hinaus rasen sah.

Was bleibt uns übrig, als das zu vergessen? Was macht es Sinn zu sagen: „Ich bin normalerweise blind“ oder „Ich bin eigentlich tot“. Das ist nicht unser Alltag, mit solchen Einstellungen bewältigen wir keine Probleme.

Was sagt der Philosoph dazu?

Da sind drei Optionen, eine Erfahrung wie diejenige Dillards ernst zu nehmen, die alle ihre Anhänger*innen haben: In einer ersten Option fallen mitten im Alltag irgendwie Gegensätze ineinander; unsere Sprache und unser Alltagsverständnis sind mangelhafte Krücken. Schwierig, hier noch eine Rolle für das „Denken“ zu finden. Auch für Sortieren, Planen und viele andere menschliche Tätigkeiten scheint die Grundlage zu schwinden. Option zwei wäre: Unser Alltagsverständnis ist einfach falsch, wir schlafen hier, statt aufzuwachen, wir sind noch nicht aus dem Uterus der Erde herausgekommen.

Sokrates verstand sich als Weckruf und als Stechmücke der denkerisch und moralisch schlafenden Athener – und viele nach ihm. Es gäbe noch eine dritte Möglichkeit: Die Wahrnehmung bleibt völlig bestehen; sie könnte die enge Pforte sein, durch die wir Zugang zur Woge des Lichts und der Tiefenerfahrung haben – auch wenn es die Zeit mit sich bringt, dass wir diesen Zugang immer wieder verlieren.

Veranstaltungshinweis

Erinnern Vergessen Natur

„Die wunderliche Lebendigkeit von Tieren, Pflanzen und Wetter“ ist der Titel eines achtteiligen Kurses zur Philosophie der Naturwahrnehmung, den Matthias Rugel SJ ab dem 18. September anbietet.

Sie können am Kurs direkt im Heinrich Pesch Haus oder online teilnehmen.

Headerbild: © suze/photocase.com, Bild unten: © pexels/pixabay.de


Matthias Rugel

Sucht den Sinn in Gesellschaft von alten und zeitgenössischen Philosophen und möchte in der Gesellschaft den Sinn für gemeinsames Leben mit Menschen aus aller Herren Länder stärken. Der Jesuitenbruder arbeitet als Bildungsreferent am Heinrich Pesch Haus. Der ehemalige Langzeit-Student, Jugendtheater- und Softwareentwickler organisiert auch in Corona-Zeiten ehrenamtlichen Sprachunterricht für Geflüchtete. Seine Ahnung ist, dass die Willkommenskultur bis heute mit dem Reich Gottes zu tun hat.

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