Klaus Mertes SJ Kolumne

MERTES’ MEINUNG

„Ich habe nicht Abstand gehalten“

Wie ich einen Corona-Schweigemarsch erlebte – und was die Medien daraus machten

„Da hilft nur Abstand halten“, schreibt Tobias Zimmermann, wenn rechte Gruppen und Verschwörungstheoretiker Kritik an und Ängste wegen des neuen Impfstoffs „antisemitisch färben“. Wie gut, dass es das Online-Magazin „Sinn und Gesellschaft“ gibt. Da werden solche Leute mit ihren Sprühdosen rausgehalten. Deswegen traue ich mich auch zu antworten.

Ich habe nicht Abstand gehalten. Ich war am 10. Oktober auf einem „Schweigemarsch“ in Berlin dabei. Die vermutlich den „Querdenkern“ nahestehenden privaten Veranstalter hatten darum gebeten, Masken zu tragen, die Abstände einzuhalten und keine Fahnen oder andere Parolen auf Plakaten oder T-Shirts zu tragen. Nur in der ersten Reihe vorne war ein großes Tuch mit dem Text entfaltet: „Wir müssen reden.“

Der Zug ging still und diszipliniert vom Adenauerplatz aus über den Ernst-Reuter-Platz bis hin zum Großen Stern – ich schätze mal: 20.000 Menschen, vielleicht auch mehr. Mir schien: Ein Querschnitt der Gesellschaft.

Bei der Endstation gab es keine Reden, sondern nur große Tonnen, in die man die Masken ordnungsmäßig entsorgen konnte. Vereinzelt waren am Rande Personen mit T-Shirts in Reichskriegsfarben zu sehen, die den Zug beschimpften. Ich sah auch den landesweit bekannten Vegan-Koch, der versuchte, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er wurde von Kameras umzingelt.

Zum Färben gehören immer zwei: Die, die färben, und die, die sich färben lassen. Es gehören aber auch die Medien dazu: Sie färben mit, je nachdem, auf wen sie die Kameras richten. Über den eindrucksvollen Schweigemarsch, der ohne Zwischenfälle verlief, wurde nirgends berichtet.


Zum Kommentar von Tobias Zimmermann gelangen Sie hier:


Klaus Mertes

Als Klaus Mertes, geb. 1954, noch nicht wusste, dass er eines Tages Jesuit, Lehrer und Kollegsdirektor werden sollte, hatte er eigentlich zwei Berufswünsche: Entweder in die Politik gehen und Reden halten, oder an die Oper gehen und als Tristan in Isoldes Armen sterben. Rückblickend lässt sich sagen: Als katholischer Priester kann man beides gut kombinieren: Öffentlich reden und öffentlich singen. Die Jugendlichen, die Eltern, die Kolleginnen und Kollegen in den Schulen und alles, was so im Lebensraum Schule und Internat anfallen kann, halfen ihm, vor den großen Fragen nicht zurückzuschrecken und zugleich bei den Antworten nach Möglichkeit nicht abzuheben. Seit Sommer 2020 hat er den Schuldienst nun verlassen und ist seitdem vor allem publizistisch und seelsorglich in Berlin tätig.

Foto: Wolfgang Stahl

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