Gedanken über Spiritualität und den Sinn des Lebens – ein Interview mit Tobias Zimmermann SJ
Kirche und Glaube verlieren zunehmend an Bedeutung, immer mehr Menschen treten aus der Kirche aus. Gleichzeitig wächst das Bedürfnis nach Spiritualität. Doch was verbirgt sich eigentlich hinter diesem Begriff? Und warum ist da dieses Bedürfnis nach Spiritualität? Ein Gespräch mit Tobias Zimmermann SJ, der gerade mit der Holy Hour ein neues Angebot für Menschen startet, die auf der Suche sind. Tobias Zimmermann ist Jesuit und leitet das Heinrich Pesch Haus in Ludwigshafen. Als Seelsorger begleitet er seit vielen Jahren Menschen spirituell.
„Spiritualität“ – das Wort wirkt nicht besonders modern. Wie erleben Sie gerade die Nachfrage nach Spiritualität?
Naja, „Spiritualität“ drückt negativ betrachtet die Sehnsucht nach geistlicher Orientierung und Nahrung für die Seele aus, ohne all die Bindungen mit ins Wort zu bringen, die das Wort „Religion“ sofort beinhaltet. Spiritualität ist dann manchmal einfach noch ein Baustein in einer Kultur der Selbstoptimierung, damit auch das Seelchen auf seine Kosten kommt. Und dafür gibt es dann gleich einen ganzen Markt der Möglichkeiten von Angeboten. Und das suggeriert mir: Ich könne das gewohnte Kundenverhältnis zu professionellen Dienstleistern auch dort aufrechterhalten, wo es um meine Seele geht. Ich kaufe mir Seelennahrung, Coaching …
Bei Religion schwingen dagegen sofort Assoziationen mit wie Bindung an Tradition, Autoritäten und Gemeinschaften mit gegenseitigen Erwartungen …
Nur es gibt keine dauerhaft tragbare persönliche „Sinnsuche“, das ist meine Überzeugung, ohne dass daraus Bindungen und Verpflichtungen erwachsen.
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Es gibt keinen Sinn, der sich erfüllen könnte, ohne dass ich mich als Person vor meinem Schicksal auch selbst fragen muss: Und was erfüllt sich durch Dich und Deinen Beitrag?“
Aber das ist eine Sichtweise. Positiv betrachtet signalisiert „Spiritualität“ einfach einen Hunger, den manche Menschen spüren einerseits. Und andererseits ein Wissen um geistliche Übungswege, die es möglich machen, als Mensch darauf für sich Antworten zu finden: Wie finde ich heraus, was mich dauerhaft erfüllt? Und wie finde ich heraus, was sich nur durch mein Engagement, vor dem Hintergrund meiner unverwechselbaren Talente, meiner Biografie und meiner Beziehungen zu anderen durch mich erfüllen kann?
Hat sich auch etwas bei der Nachfrage verändert?
Es gibt derzeit einfach unglaublich viele Menschen, die sich mit ihren Verletzungen und ihrer Enttäuschung durch die christlichen Kirchen konfrontiert sehen. Das sind nicht unbedingt neue Wunden. Aber die bluten jetzt wieder, weil gerade in und rund um die Kirchen so viel auf den Tisch kommt, was jahrzehntelang mit Macht weggedrückt wurde. Und die Enttäuschungen vieler Menschen hängen auch an Rollenmustern, hängen zum Beispiel konkret an schlechten Erfahrungen mit Priestern und Klerus zusammen.
Dann ist es für diese Menschen natürlich nicht leicht, an den traditionellen Orten nach geistlicher Orientierung zu suchen, wo sie wieder mit diesen klar verteilten, hierarchischen Mustern konfrontiert sind. Ein Freund sagte mir neulich: „Ich gehe nur noch zu wenigen Priestern in den Gottesdienst, die ich gut kenne. Denen kann ich noch vertrauen.“ Das ist eine Veränderung.
Und dann trocknen natürlich viele Orte, die bisher für Menschen eine geistliche Heimat waren, aus: Die Gemeinden zum Beispiel. Und in großen, lebendigen Gemeinden konnten sich in der Vergangenheit schon noch die treffen, die sich jeweils was zu sagen hatten. Aber je kleiner die Gemeinden werden, desto größer ist die Gefahr, dass da ein Stammtisch-Effekt eintritt. Da steht dann unsichtbar der Spruch drüber, den man heute noch in Wirtshäusern meiner Heimat sieht: „Da hocka die, die allaweil da hock´n“. Und alle anderen fallen buchstäblich raus.
Und dann gibt es natürlich all jene Menschen, die einfach auf der Suche sind. Für sie sind viele Türschwellen zu geistlichen Angeboten sehr hoch. Und sei es nur die Schwelle des Eindrucks, dass in diesem Meditationskreis vor allem Menschen sitzen, die schon seit Jahrzehnten üben, stundenlang still zu sitzen. Das schreckt ab! Wo darf ich mal was ausprobieren, ohne dass ich schon Profi sein oder mich binden muss?
Welchen Bedarf des Menschen kann Spiritualität stillen?
Verzeihen Sie, wenn mich die Frage provoziert. Die Welt ist keine Bedürfnisanstalt, auch wenn eine kapitalistisch dominierte Welt sie gerne darauf reduziert. Ja, es gibt so etwas wie den eben schon beschriebenen Hunger nach seelischer Nahrung, nach Weisheitswissen, wie ich Sinnerfüllung in einer Welt finden kann, die – wie wir eben gerade wieder schmerzlich erfahren – uns mit sinnlosem Leid, mit Tod, Krankheit und Schuld konfrontiert. Wie können wir lernen, damit zu leben, ohne zu verdrängen? Eine gute, eine wichtige Perspektive.
Aber es ist wie in dem Märchen von Anthony De Mello, wo Spatzen unter dem Vorwand der Erziehung einem jungen Adler immer wieder die Schwingen stutzen. Aber der wird kein Spatz! Und Menschen sind mehr als, wie eine individualisierte Konsumkultur ihnen suggeriert, „Bedürfniswesen“. Sie sind in der Lage, über sich hinaus zu wachsen, großherzig und mutig zu leben. Und auch darum geht es, wenn Menschen sich auf die geistliche Suche begeben.
Holy Hour – freitags die Arbeitswoche spritiuell abschließen
Die Holy Hour ist für alle da, die eine geistliche Gemeinschaft und etwas Nahrung für die Seele suchen. Hier haben alle Platz und begegnen sich auf Augenhöhe, Frauen und Männer, Fortgeschrittene im geistlichen Leben und solche, die einfach mal neugierig reinschnuppern wollen, was Christ*in sein auch bedeuten könnte.
Die Holy Hour findet immer freitags um 17:30 Uhr online statt. Hier können Sie sich anmelden und einwählen:
Das Heinrich Pesch Haus, das Sie leiten, startet mit anderen Partnern am 11. März 2022 die „Holy Hour“. Was verbirgt sich dahinter – und an wen richtet sich das Angebot?
Die Holy Hour richtet sich an alle Menschen, die am Ende einer – meistens sehr herausfordernden Arbeitswoche – noch einmal einen Moment der Sammlung für sich erleben wollen, bevor sie dann den Computer runterfahren und sich auf den Weg machen zu Familie, Freunden, Kommilitonen …
Die Holy Hour richtet sich an alle Neugierigen, die andere Menschen kennenlernen wollen, die sich auch auf der Suche nach Sinn befinden.
Die Holy Hour richtet sich an Menschen, die Jesus kennenlernen wollen, auf Augenhöhe, auf Augenhöhe auch untereinander, ohne gleich in die tradierten Formate gepresst zu werden, wo die Rollen klar verteilt sind: Da das „Volk“ und da die professionellen Religiösen in ihren bunten Gewändern, mit Gebeten, die sie vielleicht nicht mehr verstehen und all diesen Schwellen, die sie schmerzlich spüren.
Wie pflegen Sie als Seelsorger die eigenen Spiritualität?
Malen und Zeichnen sind für mich Gebet, die Natur eine wichtige Lehrerin und Trösterin. Und ich liebe die Eucharistie, auch wenn ihre Feier dann im Alltag manchmal furchtbar lieblos gestaltet ist. Da will ich mich als Priester auch nicht ausnehmen. Passiert. Und doch behält sie – für mich – ihre tragende Kraft, egal ob ich zelebriere oder andernorts mitfeiere.
Ich darf mein Leben lesen und verstehen lernen mit der Brille der heiligen Schriften, Brot wird gebrochen, Leben geteilt, mal freudig, mal müde, wie das Leben eben ist. Und Gott ist in all dem dabei. Deswegen ist mir persönlich auch wichtig, dass die Holy Hour nicht in Konkurrenz steht zur Eucharistie am Sonntag. Sondern dass sie vielleicht sogar die Tür dahin öffnet.
Was war die schönste Rückmeldung, die Sie bei der spirituellen Begleitung von Menschen erhalten haben?
Da gab es viele spannende Rückmeldungen. Wenn Menschen sich geistlich auf den Weg machen, dann wird es meistens lebendig, kreativ, bunt … Die letzte Rückmeldung, die mir persönlich gefiel, kam von einer Frau, die meinte: Am meisten hast Du mich damit weitergebracht, dass Du regelmäßig auf Dinge, von denen ich fest überzeugt war, reagiert hast mit einem: „Ist das so?“ Geistliche Wege sind nicht nur Suche nach Antworten, sondern auch das unerwartete Aufbrechen neuer Fragen, neuer Horizonte, verbunden mit dem Verlust von eigenen Gewissheiten, Sicherheiten oder Gewohnheiten, die uns rückblickend betrachtet dann manchmal aber halt auch sehr begrenzen. Oder, wie der geistliche Lehrer Niklas Brantschen sagt: „Stille ist nichts für Feiglinge“.
Interview: Christoph Kraft, Fotos: Stefan Weigand