Warum sie gerade für die Schule so wichtig ist
Manchmal bedarf es eines Umweges über die Perspektive einer anderen Sprache, um uns deutsch Sprechende an den Wert eines etwas in Vergessenheit geratenen Begriffs zu erinnern. Der US-Journalist David Brooks suchte beim Schreiben seines 2023 erschienen Bestsellers „How to Know a Person“ nach einem Wort, das er in seiner Sprache nur umschreiben konnte. „The Germans have a word for it: Herzensbildung, training one´s heart to see the full humanity in the other“. Klaus Mertes, langjähriger Rektor erst des Berliner Canisius-Kollegs, dann des internationalen Kollegs St. Blasien, hat der Herzensbildung sein neues Buch gewidmet.
„Herzensbildung“ meint beides, einerseits eine „Wahrnehmungskompetenz“ (Mertes), eine bestimmte Art, andere Menschen zu „sehen“; andererseits den (Bildungs-) Prozess des Erwerbs dieser Kompetenz. Mertes’ Buch reflektiert beide Bedeutungen. In vier Teile gegliedert, beschreibt es zunächst, was Herzensbildung meint.
Im zweiten Teil geht es darum, deutlich zu machen, dass wir Menschen nicht mit Herzensbildung auf die Welt kommen, sondern sie in einem Jahrzehnte dauernden Prozess erwerben, und welche wichtige Rolle die Schulen bei diesem Prozess spielen. Im dritten Teil zeigt Mertes, dass die Herzensbildung zu jenen Voraussetzungen gehört, von denen ein Gemeinwesen zwar lebt, die der Rechtsstaat – dem Böckenförde-Theorem folgend – selbst aber nicht garantieren kann. Im vierten Teil gibt Mertes seinen Leserinnen und Lesern ein Prozedere an die Hand, um eigene Herzensbildung zu vertiefen.
Unter welchen Voraussetzungen kann in Schulen Herzensbildung wachsen?
Im Zentrum steht für Mertes die Beziehung zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern, „von Angesicht zu Angesicht … Digitaler Unterricht kann analogen Unterricht nicht ersetzen“. Großartig sind Mertes‘ Ausführungen zum „Nützlichkeitsparadox“ der Schule: Wenn die Schule ihre Ziele auf den funktionalen Nutzen beschränkt, den das Erlernte für die Lernenden später einmal haben soll, wird sie genau diesen Nutzeneffekt verfehlen. Wo sie aber das „Übernützliche“ (Mertes) fördert, also Literatur, Musik, Kunst, Geschichte, Tanz und Naturerleben, dort wird sich das Nützliche von selbst ergeben.
„Motivation und Willen brauchen den Umweg über das Übernützliche.“
Nur hier begegnen Lernende sich selbst, und nur hier kann sie entstehen: Herzensbildung.
Besonders gewinnbringend fand ich das finale vierte Kapitel dieses feinen, lesenswerten Buches: Die
vier, auf altem ignatianischem Wissen basierenden Stationen zur Vertiefung eigener Herzensbildung
beginnen mit dem Umdenken („Veränderung von Einstellungen und Stereotypen“), gefolgt vom
Handeln bzw. der Verantwortungsübernahme („Auf den Ruf der Situation hören“), und gehen von
dort zur Bereitschaft, Anfeindungen auszuhalten („Ja zu sagen zu dem Preis, den die Entscheidung
kostet“). Das Versprechen, das dieser Weg bereithält – dies wäre dann die vierte Station – lautet:
„Wer Wahrheit und Gerechtigkeit hinter sich hat, wird siegen“.


Über das Buch
Welche Werte brauchen wir wirklich, um in dieser Zeitenwende die Zukunft unserer Gesellschaft menschlich und lebenswert zu gestalten?
Der Jesuit und Pädagoge Klaus Mertes ist überzeugt: Es ist die Herzensbildung, auf die es ankommt. In seinem Buch warnt er davor, unser Bildungssystem nur noch nach dem globalen Markt und den Ergebnissen der PISA-Studie auszurichten, und plädiert dafür, die christlichen Grundwerte wieder stärker in die Mitte unserer Schulen und unserer gesamten Gesellschaft zu stellen. Dazu zählen für ihn eine Wiederentdeckung der Kultur des Hörens, der Stille und des Miteinanders, was nicht nur für unsere Schulen, sondern für unsere gesamte Gesellschaft zwingend notwendig ist.
Klaus Mertes
Herzensbildung
Für eine Kultur der Menschlichkeit
Verlag Herder 2024, 160 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-451-39792-9