Der naheliegendste Ort für einen Weihnachtsgottesdienst
Nur an Weihnachten sind die Kirchen in der Regel richtig voll. Doch unter Coronabedingungen wird auch das anders sein. Die einen buchen sich einen der wenigen Plätze in der Kirche, die anderen verzichten einfach ganz auf den Gottesdienst. Mein Weg führt ins heimische Treppenhaus.
Kalt und zugig. So würde ich die meisten Treppenhäuser beschreiben, ein bisschen Staub und Sand auf den Stufen, ungeputzte Schuhe vor den Türen. So ist das auch bei uns. In diesem Jahr hat das Treppenhaus eine neue Bedeutung gewonnen: Es war an Ostern unsere Hauskirche. Mit geöffneten Fenstern saßen wir mit drei der fünf Parteien im Hausflur – jede auf einem Treppenabsatz. Weil die Kirchen geschlossen waren und wir einfach nicht auf das größte Fest in unserem Glauben verzichten wollten. Und es war wahrscheinlich eins der eindrücklichsten, tiefsten Ostererlebnisse meines ganzen Lebens.
Vom Alleinsein erschöpft
Jetzt mitten im exponentiellen Wachstum der zweiten Coronawelle, die mit aller Wucht auf die vom Jahr erschöpften Körper und Seelen einbricht, kommt Weihnachten. Die Menschen sind geschafft – nicht wie sonst vom Geschenke- und Weihnachtsfeiermarathon, sondern vom Alleinsein, vom Umorganisieren, vom Alltag meistern in der Unsicherheit.
„Komm endlich!“
Täglich schleppen wir zwei Kleinkinder, Einkäufe, Rucksäcke, Blumen und Getränke in den dritten Stock. Oft ist das mühsam – wie oft im Treppenhaus schon ein „Komm endlich!“ von den Wänden zurückgeschallt ist, kann wohl keiner zählen. Dieses „Komm endlich!“ passt zu Weihnachten wie die Faust aufs Auge – denn Geburt bedeutet genau das: Warten, Geschafft sein, und das Gefühl, dass da jemand auf sich warten lässt.
„Geburt bedeutet genau das: Warten, Geschafft sein, und das Gefühl, dass da jemand auf sich warten lässt.“
Unerwartete Mystik
Deshalb feiern wir Weihnachten auch auf dem Treppenabsatz. Wir stellen im ganzen Haus Kerzen auf, mein Mann schiebt das Klavier an die Tür. Wer etwas beitragen kann, trägt es bei: Tannenzweige, Zapfen, Stroh, die kleine Krippe aus dem Wohnzimmer.
Das Treppenhaus ist in Sekunden ein neuer Ort, weil man hier einfach keinerlei Mystik erwartet. Sie kommt umso kraftvoller.
Genauso kraftvoll, wie ich mir Gebären im Stall vorstelle: Provisorisch wird da ein sicherer Ort geschaffen, der dann aus dem Nichts heraus für Jahrtausende der Inbegriff von Geburt ist – vom Menschsein Gottes.
Kein Hexenwerk
Dieser Gottesdienst im Treppenhaus ist kein Hexenwerk, und Theologie muss man dafür auch nicht studiert haben. Ein Priester in meinem Umfeld sagte mal, ein Gebet sei eine ziemlich einfache Geschichte: „Hallo, Bitte, Danke, Tschüss.“ Was er damit sagen wollte: Sie können einfach losbeten, und Sie können bei Bedarf auch zu Hause einen Gottesdienst feiern – er muss nicht perfekt sein.
Was hat das mit uns zu tun?
Im Treppenhaus wird es in etwa so: Ich begrüße die Menschen, ich begrüße Gott. Wir singen „Stille Nacht“. Jemand liest aus der Bibel vor oder erzählt die Weihnachtsgeschichte nach. Und dann kommt der wichtigste Teil: Die Frage, was das mit uns zu tun hat. Vielleicht erzählen wir uns von den eigenen Geburtserfahrungen – von der Urgewalt, dem Gefühl des Wunders, wenn es geschafft ist. Möglicherweise beschreiben wir uns, was für Wunder wir dieses Jahr erlebt haben, und wovor wir Angst hatten. Oder wir sitzen einfach still da und starren in die Kerzen, einen Strohhalm zwischen den Fingern.
Bitten beleuchten
Mein Mann spielt Klavier, vielleicht einen Klassiker wie „Da ist ein Ros’ entsprungen“.
Und dann bitten wir Gott um das, was sich in der Welt verändern soll, wir bitten für die, an die wir denken und für die, an die niemand mehr denkt. Alle Nachbarn haben für ihre Bitten kleine Teelichter – so werden auch unausgesprochene Dinge beleuchtet.
Wir beten ein Vaterunser, das können die meisten noch auswendig. Dann wünschen wir uns den Frieden – an einem langen Kletterseil fassen alle an, auf Abstand berührt und verbunden.
Schließlich ist da der Dank. Vielleicht hat jemand dafür die perfekten Worte. Vielleicht ist es auch einfach sehr still, weil alle ganz bei sich sind. Tschüss sage ich mit einem Segen, dem guten Wunsch, dass Gott mehr Wunder als Angst in das eigene Leben bringen soll, dass wir uns von ihm umgeben fühlen können. Nun ist es Zeit für „Oh du Fröhliche“ – für das schief gesungene, getragene und perfekte Weihnachtslied schlechthin.
Die Nachbarn und wir – vielleicht trinken wir dann noch etwas im Treppenhaus und essen Schokolade. Vielleicht geht auch jeder zurück in die eigene Wohnung.
Fotos: © zettberlin/photocase.com (2x), © Stefan Weigand