Widerstandskraft, weil der Tod sie nicht durcheinander bringt
Warum hat es Sophie Scholl getan? Warum nicht meine Tante, die im selben Jahr wie Sophie Scholl geboren ist? Meine Tante, die auch liebe Menschen im Krieg verloren hat, warum wurde sie keine Widerständlerin? Ich wurde derartiges jetzt schon mehrfach gefragt und versuche eine Antwort – in Auseinandersetzung mit der besten Antwort, die ich dazu in der Literatur gefunden habe.
Einen wirklich beachtenswerten Blick auf die weiße Rose liefert Inge Jens, die 1984 die Edition von „Hans und Sophie Scholl. Briefe und Aufzeichnungen“ besorgt hat. Jens formuliert in ihren Lebenserinnerungen (Unvollständige Erinnerungen 2009) die Frage, was die Menschen im Weiße Rose-Kreis, die irgendwie ein normales, dem Leben zugewandtes Leben geführt haben, für ihr Tun motiviert hat.
Was gab diesen jungen Studierenden die Sicherheit im richtigen Einschätzen der Situation, im Widerstehen und schließlich im Sterben? Woher hatten sie ihr Wissen? Gab es Lehrer, Mentoren, Vorbilder, denen sich nachlebten?
Jens, die in den 1980er Jahren sich auch im eigenen Leben ein wenig als Widerständlerin (gegen die Stationierung von US-Atomsprengköpfen in Mutlangen) erfahren durfte, formuliert zwei Hauptmotive:
(1) Religiosität bzw. Glaubensstärke und
(2) Freundschaft.
Daneben gibt es Koinzidenzen:
(3) „Alle hatten – in irgendeiner Form – der Jugendbewegung angehört,
(4) alle waren durch ein ausgesprochenes Elitebewusstsein geprägt, das sich in erster Linie in einem dezidierten Verantwortungsgefühl des Wissenden gegenüber dem noch Unwissenden äußerte, und
(5) alle hatten bereits im Elternhaus […] die Unabdingbarkeit geistiger Autonomie und das ernst Nehmen der eigenen Individualität gegenüber Zwang und Vereinnahmung [gelernt].“
Das letztere wertet Jens vielleicht sogar als Hauptmotiv auf, ich lasse es unter den Nebenmotiven. Alle diese Nebenmotive sind gut beobachtet, aber irgendwie auch das, was in den 1980er Jahren überhaupt geschätzt wurde, insbesondere in politisch eher linken Kreisen. Die Skrupulanz und oftmalige innere Leere, die bei Sophie Scholl zu lesen ist, sucht Jens nicht ganz so intensiv bei den widerständigen Studenten. Aber vielleicht spricht sie ja eher gegen ein Widerstandshandeln, vielleicht ist sie auch vor allem bei Sophie Scholl zu finden.
„Es wird mal Zeit, dass einer dagegen stirbt.“
Jetzt kommt noch etwas, was ich recht spannend finde:
(6) das „heute so schwer nachvollziehbare andere, ‘realistischere‘ Verhältnis der Kriegsgeneration zum Tod. An der Front und in den bombenbedrohten Heimatstädten – überall und jederzeit war ein sinnloses, zufälliges Sterben möglich … eine Erfahrung, die Sophie Scholl in dem Diktum zusammenfasste: ‚Es sterben so viele dafür, es wird Zeit, dass mal einer dagegen stirbt‘“.
Ich fand schon beim ersten Lesen diese Analyse von Inge Jens genial und tiefblickend – und so ging es mir jetzt wieder. Trotzdem möchte ich im Blick auf Sophie Scholl alle diese sechs Thesen widerlegen oder zumindest in den Hintergrund schieben, gegenüber anderen Aspekten, die in dieser kurzen Zusammenfassung ihrer Beurteilung von 1985 nicht vorkommen.
Ein realistischeres Verhältnis zum Tod
Bei These (6) korrigiert sich ja Inge Jens selbst. Ich höre, dass auch sie mit 82 Jahren jetzt (2009) ein „realistischeres“ Verhältnis zum Tod hat, so wie es die Studenten damals schon hatten. In den 1980er Jahren gab es die Tendenz, dass viele Menschen den Tod nicht sehen wollten, die Angehörigen allein in die Krankenhäuser zum Sterben schickten. Heutzutage nehme ich vielfältige verschiedene Einstellungen zum Sterben wahr, aber es gilt wenigstens nicht mehr als hip, darüber, dass jemand im Sterben liegt, vollkommenes Stillschweigen zu verbreiten bzw. vom Arzt über den nahenden Tod einfach nichts zu hören zu bekommen.
Den konstatierten Realismus bezüglich des Sterbens will ich aus Sophie Scholls Sicht so akzentuieren: Ihr ist eine große Widerwärtigkeit des Sterbens und insbesondere des Tötens/Sterbens von Unschuldigen von Kindheit an bewusst (mehr dazu in meinem Essay “Sophie Scholl und die tote Maus” ). Andererseits, ich würde die realistische Sicht des Todes so artikulieren, dass in Sophies Phantasie alle ihr wichtigen Personen schon gestorben sind, gerade wenn sie kritische Kriegssituationen geschildert bekam. Aber auch andere hat sie in der Vorstellung schon verloren: die oft kranke Mutter, den gebrechliche Carl Muth, den angeschlagenen Josef Furtmeier, den Vater ins Gefängnis, die beste Freundin Lisa phasenweise an die Oberflächlichkeit.
Mir scheint, dass sie dabei die Erfahrung gemacht haben muss, dass mit dem Sterben nicht alles zusammenbricht.
Der Tod irritiert nicht
Ich würde vermuten, dass eine solche Erfahrung auch bei realen Verlusterfahrungen getragen hat. Ich möchte Jens‘ These so modifizieren: Sophie Scholl lässt sich vom Schrecken des Todes, den sie sehr wohl empfindet, nicht irritieren.
Das ist für mich der wichtigste Punkt. Wer so erlebt, lässt sich von der Macht von Höllenängsten, der Macht der Masse, von Geschenken, von der erlebten Ohnmacht, selbst von den eigenen fixen Ideen nicht mehr beeindrucken.
Zur Religiosität (1) von Sophie Scholl gibt es viel zu sagen. Ich möchte die These von Jens, für die hier Glaubensstärke das Schlagwort ist, so modifizieren, dass bei Sophie Scholl ein Hilferuf im Zentrum steht. Das Hören auf ein inneres Schreien angesichts von eigener Leere und Unfähigkeit. Aber dieses Schreien gibt ihr wieder so viel, oder sie erfährt darauf so viel Antwort, dass sie gut leben kann und meist gut zu ihren Mitmenschen sein kann. Dieser Hilferuf spiegelt sich in ihrem Verhältnis zur Natur, wo sie all das Grausame wahrnimmt – und doch darin eine Lebendigkeit und ein tiefes geliebt Werden erfährt.
Visionen sind wichtig
Zur Freundschaft (2) möchte ich sagen, dass es nicht auf einen großen Freundeskreis ankommt. Nicht einmal darauf, sich die Freunde gewählt zu haben. Sophie ist in München einfach in einen schon bestehenden Freundeskreis von Medizinstudenten und Lesezirkeln hineingestolpert. Sondern es kommt auf die große Vision, das gemeinsame Ziel an, das man mit wenigen Freunden teilen kann. (Die Konzentration darauf macht Sophie in „Nebenthemen“ völlig fahrig und zerstreut, wie es sonst nur frisch Verliebe sind.)
Zur Jugendbewegung (3) ist zu bemerken, dass Fahrten mit Gleichaltrige und Lagerfeuerromantik zwar damals und heute anziehend sind, das Entscheidende daran aber wohl ist, dass jungen Leuten echte Verantwortung zugetraut und gegeben wird.
Ich möchte wirklich nicht bestreiten, dass bei Sophie Scholl ein Elitebewusstsein (4) ausgebildet war, dass sie meinte, die Masse zu durchschauen als stumpf und blind. Die Rückseite dessen ist freilich, dass sie genau diese Eigenschaften aus sich selbst am besten kannte und große Sehnsucht spürte, ihnen wenigstens nicht die ganze Zeit unterworfen zu sein.
Diese Sehnsucht ist schon Teil des Autonomiestrebens (5), das in Spannung zum theologischen Hilfebedürfnis steht. Mir scheint, Sophie Scholl konnte beidem den rechten Platz geben. Autonomie passt für den Umgang mit Menschen, gelebte Hilfsbedürftigkeit im Umgang mit Sterblichkeit und Tod. Die Erfahrung Gottes findet sich in beiden Verhältnissen auf je beiden Seiten, in meinem Inneren, in den Idealen des Anderen, im Anlehnen beim Leiden und Sterben und in der Erfahrung einer großen Macht.
Foto ganz oben: Mitglieder der Weißen Rose. Sophie Scholl zwischen ihrem Bruder Hans Scholl (links) und Christoph Probst. Die Aufnahme zeigt die Studentin und die Studenten am 22. Juli 1942 bei der Militärsammelstelle am Ostbahnhof München.