Sophie Scholl

Versöhnung  

Sophie Scholl und die tote Maus

Wie Kindheitserfahrungen das ganze Leben prägen können

Viele Erfahrungen der Kindheit vergessen wir als Erwachsene. Nichtdestotrotz, manche können uns ein Leben lang prägen. Oft wird erzählt, dass eine ungute Erfahrung der Kindheit ganze Lebensbereiche vergiftet, insbesondere, wenn sie nicht aufgearbeitet wird. Ich möchte von einer unguten Kindheitserfahrung der Sophie Scholl berichten, die vielleicht dazu beigetragen hat, dass sie dem Hitlerregime widerstand.

Am 28. Oktober 1942 schreibt die 21-jährige Sophie Scholl ihrem Freund Fritz Hartnagel, einem Offizier der Wehrmacht, aus Ulm nach Stalingrad:

Der Anblick eines unschuldigen kleinen Mäuschens in der Falle hat mir immer Tränen in die Nase steigen lassen, und daß ich darüber froh wurde wieder, und jetzt noch froh bin, kann ich bloß einem Vergessen verdanken, das aber doch keine Lösung ist.

Aufmerksam beobachtet: Tränen steigen auch in die Nase! Wenn Ratten in der Falle gewesen wären, wäre dem Kind Sophie vielleicht nicht die Trauer gekommen. Aber Mäuse erschienen auch mir in jungen Tagen als eine Art Kinder, die man doch mögen muss. Liebenswürdige Tiere, die mir nichts zuleide tun – und da komme ich in einen Raum und finde neben dem Speckwürfel oder Käsestückchen auf dem lackierten Holz den eingeklemmten Kopf des Tieres, das nicht mehr lebt.

Auf der Seite der Maus

Auch wenn ich den Besorgten um die Vorräte im Speicher gegeben habe, habe ich mich heimlich gefreut, wenn der Käse weg war, aber die Maus überlebt hat. Ich kann mich nicht erinnern, wie mir die Tränen in die Nase stiegen. Aber ich habe den Anblick des toten Tieres gemieden. Sollen das doch die Erwachsenen wegmachen, aus den Augen nehmen. Ich möchte damit nichts zu tun haben. An mehr Deutung meinerseits erinnere ich mich nicht.

Sophie hat dieses Erleben noch ein wenig radikaler gedeutet. Eigentlich kann ich jetzt nie mehr froh werden. Mein Geschwister ist tot, ich kann nie mehr froh werden – ja, die dreijährige Sophie muss auch mitbekommen, wie ihre kleine Schwester Tilde mit neun Monaten verstorben ist. Es geht nicht anders, als etwas Derartiges zu vergessen, sollte man meinen. Vielleicht trifft das zu – aber es entwickelt sich auch eine gewisse Wachsamkeit. Ich vermute zudem, die Erfahrung wird zum Gradmesser für das, was andere Leute sagen, und dafür, wie ich in die Welt schaue.

Menschen sollen andere Menschen nicht töten

Sophie entwickelt im Lauf der Jahre ein Gerechtigkeitsbedürfnis, wie wir alle es entwickelt haben, vielleicht ein bisschen rigider. Auch wenn sie erzählt, dass sie die Sache mit den toten Mäusen vergisst, sie kommt ihr wieder. Die Studentin erinnert sich daran. Schon zwei Jahre vorher hat die Abiturientin den Krieg abgelehnt. Sie wehrt sich einfach dagegen, dass Menschen andere Menschen töten. Ob sie wirklich all ihren Freunden, die in den Krieg zogen, das Versprechen abgenommen hat, nicht auf Menschen zu schießen, wie es überliefert wird, lässt sich nicht mehr schlüssig nachweisen. Es würde zu ihrem Charakter passen. Und man weiß heute auch, dass es genug Soldaten in den Kriegen gab, die das Töten trotz Schießbefehl einfach umgingen. Fritz Hartnagel war im Nachrichtendienst, ihr Bruder Hans war Sanitäter an der Front.

Ein wenig ist es vielleicht die Solidarität mit den Mäusen, die der erwachsenen Sophie Scholl den Volksgedanken madig machte, die Gerechtigkeit höher stellte als das Nationale. Sie schrieb ihrem Freund, dem Offizier:

Sag nicht, es ist fürs Vaterland.

Im Erleben der Tierwelt machen wir Menschen wichtige Urerfahrungen. Dass etwas lebendig ist und doch von ganz anderer Lebensart wie wir Menschen, erfahren wir auch an den Tieren: Eine wichtige Prägung für Empathielernen und Gotteserfahrung. Oder auch: Bevor wir registrieren, dass auch Menschen sterben, hat wohl jedes kleine Kind eine tote Fliege gesehen, wenn nicht sogar das Töten einer Fliege. Die Tatsache des Fressens und Gefressenwerdens unter allem Lebendigen wird direkt erlebt, wenn ein Haustier geschlachtet wird – Sophie Scholls Eltern hatten zwar kein Vieh, aber sie wuchs auf dem Land auf, wo der Todesschrei von geschlachteten Tieren manchmal gehört werden konnte.

Warum haben so viele Menschen keinen Hunger nach dem Geistlichen?

Als Erwachsene hat Sophie ein Gegenmodell formuliert: sie nennt es „das Geistige“. Es ist nicht da wie ein Schutz der Mäuschen vor der Falle, nicht wie ein Zauber, der den Krieg beendet. Es ist da im Hunger. Sie fragt mit ihren Freunden: Warum haben so viele Menschen heute keinen Hunger nach dem Geistigen? Es ist da in der Sehnsucht. Im erwähnten Brief zitiert Sophie Paulus „das ängstlich Harren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes.“ Das Gegenmodell ist da in der Hoffnung, dass es etwas Größeres gibt als den Kreislauf von fressen und gefressen werden, als die Unterwerfung des Schwächeren durch den Stärkeren, wie es in der Natur erlebt wird und in der Ideologie der Nationalsozialisten zum Gesetz gemacht wurde.

Man kann dies als religiöse These lesen, als gläubigen Trotz. Oder als eine Erfahrung von einer anderen Welt, einer schon ein wenig erfüllten Hoffnung, einer schon ein wenig erlebten Abmilderung des „ängstlichen Harrens“ auf bessere Zeiten.

Leben entsteht aus Leben

Auf beiderlei Weisen verstehe ich Sophie Scholl. Dazu kommt aber etwas Drittes. Ich nenne es Urfreude am Leben. Schon in der Erfahrung mit der toten Maus liegt noch tiefer die Erfahrung, dass diese Maus auch ein wunderbares Geschöpf ist. Dass sie ein staunenswertes Leben führt. Dass in ihrem Lebenstrieb schon etwas nichtmaschinelles Eigenständiges, etwas vom Leben des Geistes ist – so wie das Leben des Geistes überall ist. Einfach weil Leben nicht aus Tod, sondern aus Leben entsteht. Im vorher zitierten Brief redet Sophie rhetorisch die sozialdarwinistischen Offizierskollegen, mit denen Fritz diskutiert, an:

Oh, diese faulen Denker! Mit ihrem sentimentalen Stirb und Werde. Nur aus Leben entsteht Leben, oder haben jene schon beobachtet, daß eine tote Mutter ein Kind geboren hat? Haben sie schon beobachtet, dass ein Stein, dem man sogar einen Schein von Leben nicht absprechen kann, da er ist und ein Schicksal hat, sich vermehrt? Sie haben noch nicht nachgedacht über den widersinnigen Satz: Nur aus Tod entsteht Leben. Und mit ihrem Selbsterhaltungstrieb werden sie ihrer Selbstvernichtung entgegensteuern. Sie wissen nichts von einer Welt des Geistes, in der das Gesetz der Sünde und des Todes überwunden wird.“

Tiefer als das „unschuldige Mäuschen in der Falle“ ist das Leben, welches das Mäuschen trägt. Ob das Tier jetzt in der Falle ist oder nicht, ist zweitrangig. Intensiver als die Tränen in der Nase ist das Erinnern an die Kraft des Lebens! „Strahlend hell von allen gesehen“ ist es zwar noch nicht, aber das macht den Sieg des Geistes nicht weniger erstrebenswert.

Dass Sophie Scholl die Spannung zwischen darwinistischer Oberfläche und ursprünglicher Lebensdynamik aushalten kann, macht sie selber kreativ. Es eröffnet ihr eine Freiheit zu handeln.

Im Traum, den Sophie Scholl von ihrer letzten Nacht im Leben erzählt, berichtet sie, wie sie selber (wie eine Maus) von einer Falle geschnappt wird. Eine tiefe Schlucht tut sich vor ihr auf und sie wird hineinfallen. Aber sie berichtet auch, dass sie das Kind, das sie zur Taufe bringen will, über die Schlucht retten kann. Sie deutet es als „unsere Idee“. Gerechtigkeit, Freiheit und Leben.


Sophie Scholl

Terminhinweis

Am Dienstag, 08. Juni 2021, lädt das Ludwigshafener Heinrich-Pesch-Haus um 19:30 Uhr zu einer Online-Veranstaltung über Sophie Scholl und die Entwicklung ihrer inneren Kraft ein. Entdecken Sie mit Dr. Matthias Rugel SJ, wie Sophie Scholl zum Glauben fand und langsam bereit wurde, in den Widerstand zu gehen.


Matthias Rugel

Sucht den Sinn in Gesellschaft von alten und zeitgenössischen Philosophen und möchte in der Gesellschaft den Sinn für gemeinsames Leben mit Menschen aus aller Herren Länder stärken. Der Jesuitenbruder arbeitet als Bildungsreferent am Heinrich Pesch Haus. Der ehemalige Langzeit-Student, Jugendtheater- und Softwareentwickler organisiert auch in Corona-Zeiten ehrenamtlichen Sprachunterricht für Geflüchtete. Seine Ahnung ist, dass die Willkommenskultur bis heute mit dem Reich Gottes zu tun hat.

Weiterlesen

3
28.03.2024 Versöhnung
Tobias Zimmermann

»Ihr werdet mich nicht los!«

Es ist wirklich eine „verbeulte“ Kirche, wie Papst Franziskus sagt, mit der wir unterwegs sind. Aber diese Kirche sind nicht „die anderen“. Ich bin Teil davon, obwohl ich mich nicht erst seit gestern oft nicht daheim fühle oder dem Wunsch aktiv widerstehen muss, mich zu distanzieren. Aber sie wird mich nicht los, und ich sie nicht! – Ein ganz persönlicher Kar- und Ostertext von Tobias Zimmermann SJ

weiter
19.03.2024 Versöhnung
Nürnberg St. Clara

Was sagt das Magnifikat über Maria?

Die Evangelien berichten über Maria auf unterschiedliche Weise, und das Magnifikat, der Lobgesang Marias, ist eines der biblischen Bilder, das Maria prägnant kennzeichnet. ­Allerdings hat Maria wohl kaum das Magnifikat gedichtet. Der Jesuit Klaus Vechtel wirft einen näheren Blick auf eines der bekanntesten Gebete der Menschheit.

weiter
12.03.2024 Zusammenleben

»Es geht um jeden Menschen«

Jedes Jahr verlassen in Deutschland laut einer Studie des Bildungsforschers Klaus Klemm rund 50.000 junge Menschen die Schule ohne Berufsreifeabschluss. Keinen Abschluss zu haben bedeutet gleichzeitig eine ungewisse und oft schwierige berufliche und persönliche Zukunft. Hier will das Ludwigshafener Heinrich Pesch Haus gemeinsam mit der Stiftung Jugend.Hafen mit dem Projekt „LU can learn“ helfen.

weiter