Thomas von Aquin Traurigkeit

Versöhnung  

Weinen, schlafen, baden

Thomas von Aquin zum Umgang mit der Traurigkeit

In seiner „Summa Theologiae“ (Prima Pars Secundae Partis, Quaestio 38) erörtert Thomas von Aquin sechs Heilmittel („remedia“) gegen die Traurigkeit: das lustvolle Genießen, das Weinen, das Mitgefühl befreundeter Menschen, das Betrachten der Wahrheit, das Schlafen und das Baden. Es mag verwundern, dass der mittelalterliche Philosophie, der als „doctor angelicus“ (der „engelsgleiche Lehrer“) gilt, ganz lebenspraktische Themen wie das Schlafen oder Baden behandelt.

Für den Theologen Otto Herrmann Pesch ist die Auseinandersetzung mit dem Umgang der Traurigkeit aber nicht einfach „eine Kuriosität der Theologiegeschichte“. Keineswegs solle man Thomas Hinweise „mit gerührtem Schmunzeln beiseite“ legen. Denn in der Tat: Eigentlich geht es darum, was es heißt, ein Mensch zu sein.

Genießen

Thomas empfiehlt, gerade in der Traurigkeit Erfahrungen lustvollen Genießens („delectatio“) zu suchen.  Bei aller Verdunkelung durch lustfeindliche Einflüsse ist die christliche Botschaft eine auch sinnen-frohe Botschaft, in der z.B. die Gaumenlust keineswegs verteufelt wird. Immerhin war das erste Wunder Jesu die Verwandlung von Wasser in Wein, und zwar in einen besonders schmackhaften Wein, was eigens betont wird.

Dass Thomas die sinnliche Freude als „Heilmittel“ empfiehlt, ist zudem in seiner Betonung der leib-seelischen Einheit des Menschen begründet. Im Anschluss an Aristoteles lehnt er einen Dualismus von Leib und Seele ab und geht von engen, gleichsam „psychosomatischen“ Wechselwirkungen aus. Demnach können sinnlich-leibliche Erlebnisse (z.B. lustvoller Genuss) ein mentales Phänomen wie die Traurigkeit unmittelbar positiv beeinflussen.

Weinen

Der traurig stimmende Schmerz, der, „im Innern verschlossen bleibt, (…) vervielfacht sich in der Seele“, so Thomas. Mit anderen Worten: Wenn uns etwas stark beeindruckt (positiv oder negativ), ist es hilfreich, dem, was uns so beeindruckt, angemessenen Ausdruck zu verleihen – nicht nur auf dem Wege einer vernunftgeleiteten, sprachlich-begrifflichen Artikulation, sondern auch im leiblichen Ausdrucksprozess des Weinens. Auch in dieser Wertschätzung des Weinens zeigt sich das Ernstnehmen des Menschen als einer leibseelischen Ganzheit.

Das Weinen ändert zwar an den objektiven Umständen nichts, hilft aber, gleichsam Druck abzubauen, auf einer leiblich-affektiven Ebene ebenso wie auf einer mentalen Ebene. Die von Thomas angeführten, auf eine starke Unterscheidung von Leib und Seele setzenden Gegenargumente überzeugen ihn „deshalb nicht, weil Leib und Seele nicht nebeneinanderher leben, sondern sich gegenseitig gestalten und prägen“, so Pesch.

Angesichts der den Druck abbauenden und Kopf wie Herz öffnenden Kraft des Weinens ist es bedauerlich, wenn immer noch allzu oft das Weinen aberzogen wird (vor allen den Jungen) oder bei Erwachsenen als Schwäche und „typisch weiblich“ (in einem abwertenden Sinne) ausgelegt wird.

Mitgefühl befreundeter Menschen

Auch mit Blick auf das Heilmittel des Mitgefühls diskutiert Thomas mögliche Einwände: Wenn der mitfühlende Mensch ebenfalls traurig wird – ist das dann nicht nur eine Ausweitung der Traurigkeit? Und wenn der traurige Mensch wiederum den Schmerz des mitfühlenden Menschen erlebt – ist das für ihn nicht „der Grund zusätzlichen Schmerzes“?

Beides ist nicht schlechthin falsch, gleichwohl überwiegt erstens der entlastende Effekt geteilter Emotionen – dass der Mensch bereits früh in der Lage ist, emotionales Erleben mitzuteilen, nachzuvollziehen und gemeinschaftlich zu teilen, ist übrigens eine erstaunliche Fähigkeit! Zweitens erwächst der Schmerz des mitfühlenden Menschen aus einer dem traurigen Menschen wohlwollenden oder gar liebenden Einstellung heraus. Diese zu erleben, kann für den traurigen Menschen eine wohltuende Erfahrung sein.

Anders formuliert: Wenn ich das, was mich schmerzhaft beeindruckt, nicht nur ausdrücken kann (z.B. im Weinen), sondern so ausdrücken kann, dass es einen anderen Menschen wiederum beeindruckt, kann mich das entlasten und stärken. Auch hier kommt die leibseelische Ganzheit ins Spiel: Zwar ist es hilfreich, den eigenen Schmerz ins Wort zu bringen und verständnisvolle Worte zu hören. Mindestens genauso wichtig sind jedoch leibliche Expressionsweisen und das sinnlich-leibliche Erleben von Mitgefühl und Resonanz – etwa im liebevollen Angeblickt- oder taktvollen Berührt-Werden.

Betrachten der Wahrheit

Für den Philosophen Thomas ist es klar, dass das „Betrachten der Wahrheit“ vorgängig zum konkreten (ggf. betrüblichen) Inhalt mit einer Freude am Erkennen und Verstehen einhergeht und dass ein gelingender intellektueller Vollzug positiv auf das emotional-affektive Erleben einwirkt und „ergötzlich“ ist – so eine alte Übersetzung des Thomas-Textes.

Und: So wichtig gerade für Thomas die sinnlich-leiblichen und emotional-affektiven „Heilmittel“ gegen die Traurigkeit sind, so wenig dürfen sie verhindern, der schmerzhaften Wahrheit ins Auge zu sehen.

Eine gewisse Ablenkung mag sinnvoll sein – eine anhaltende Weigerung, sich mit der schmerzhaften Realität zu konfrontieren, verschafft jedoch nur kurzfristige Vertröstung und keinen nachhaltigen Trost.

Schlafen und Baden

Thomas geht davon aus, dass der durch Traurigkeit belastete und gebremste Leib durch Schlafen und Baden wieder in „Lebensbewegung“ gerät. Auch hier zeigt sich dann die positive und belebende Wirkung einer guten leiblichen Verfassung auf Stimmung und Erleben. Zwar wird die genannte „Betrachtung der Wahrheit“ insbesondere durch den Schlaf unterbrochen; offenbar geht Thomas aber davon aus, dass diese Pause eine Voraussetzung dafür ist, im Wachzustand die „Wahrheit zu betrachten“. Worin genau der nicht nur hygienische, sondern „ergötzliche“ Effekt des Badens besteht, führt Thomas nicht näher aus, wohl aus mangelnder Kenntnis der biologischen Grundlagen.

Und auch wenn wir diese heute besser verstehen, wäre es doch einer genaueren phänomenologischen Untersuchung wert, inwiefern genau wir es als wohltuend und tröstlich erleben, von Wasser umgeben zu sein.

Traurigkeit und die Freude der Gottesbeziehung

Thomas weiß, dass konkrete Traurigkeit oft eine angemessene Reaktion darstellt, die wir zudem nicht frei wählen. Gleichwohl warnt er davor, die Traurigkeit zu einer das Leben dominierenden Grundstimmung werden zu lassen. Diese sei sogar sündhaft, da sie die Freude untergräbt, die aus der Gottesbeziehung erwachse. Heute wissen wir freilich, dass wir auch unser grundsätzliches Gestimmt-Sein nur sehr bedingt in der Hand haben.

Aber zumindest unter bestimmten Umständen ist es möglich, dass wir mit unseren Traurigkeiten so umgehen, dass sie uns nicht verbittern lassen. Thomas „Heilmittel“ gegen die Traurigkeit können dafür auch heute hilfreich sein.


Thomas Steinforth

Thomas Steinforth gestaltet in der Domberg-Akademie der Erzdiözese München und Freising theologische Erwachsenenbildung in einer vorrangig philosophischen Perspektive und immer mit Bezug zu existenziellen Erfahrungen und Fragen der Menschen sowie gesellschaftlich-politischen Herausforderungen.

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