Steven Uhly

Sinn  

»Ja, ich glaube an Erlösung«

Ein Interview mit dem Schriftsteller Steven Uhly über seinen Roman »Die Summe des Ganzen«

Der neue Roman von Steven Uhly ist ein Kammerspiel im wortwörtlichen Sinne: Es spielt in einem Beichtstuhl. „Die Summe des Ganzen“ nimmt die Leser mit in Gespräche zwischen einem Priester und einem Mann, dem offenbar eine schwere Sünde plagt. Nach und nach wird klar: Es geht um Missbrauch, Obsession und die Liebe zu einem Jungen. Doch die Begegnungen im Beichtstuhl entwickeln sich anders als gedacht: Bald gerät der Priester selbst in den Sog der Fragen und Versuchungen, er wird fast süchtig nach den weiteren Bekenntnissen des Mannes.

Der Schauplatz Ihres neuen Buches ist ein Beichtstuhl in einer kleinen Pfarrkirche am nordöstlichen Rand von Madrid. Ein ungewöhnlicher Ort. Sind Sie selbst beim Entstehen selbst einmal zur Beichte gegangen?

Ich bin nur einmal in meinem Leben zur Beichte gegangen: für meine erste Kommunion. Danach nie wieder. Ich erinnere mich noch daran, wie peinlich die Aussicht war, einem Fremden über meine kleinen, aber doch sehr intimen Vergehen berichten zu müssen. Ich rettete mich damals, indem ich einfach ein paar Sünden erfand. Den Tipp hatte ich von Schulkameraden bekommen.

Heute denke ich, dass der Priester die Sünden nicht unbedingt zu kennen braucht. Im Normalfall wissen die Menschen ohnehin selbst, was ihnen auf dem Gewissen liegt. Wichtiger wäre es daher, wenn er ein Ritual anböte, mit dessen Hilfe man sich reinigen kann. Mehr wie ein Schamane und weniger wie ein Seelsorger ohne angemessene therapeutische Ausbildung.

Wie ist die Idee zum Buch entstanden?

Das ist schwer zu sagen. Man kann im Nachhinein immer rationalisieren und eine Herleitung konstruieren, aber wie und warum eine Idee entsteht – das ist eines der vielen Geheimnisse des Geistes, die wohl kaum jemals gelüftet werden können. Ich denke, es hatte viel damit zu tun, dass Missbrauchsopfer zu meinem persönlichen Umfeld gehören, und das schon seit langer Zeit. Aber bestimmt haben der jahrelange Kirchenskandal und vor allem die Unfähigkeit der Katholischen Kirche, dem ein Ende zu setzen, auch dazu beigetragen.

Ich habe mich immer wieder gefragt, ob diese Unfähigkeit nicht ein Zeichen dafür ist, dass hier ein strukturelles Problem vorliegt, dass also der massenhafte und vermutlich jahrhundertelange Missbrauch auf ein Problem im Kern der Katholischen Kirche hinweist. Ob das der Zölibat ist, kann ich nicht beantworten. Man muss sich allerdings fragen, warum jemand auf die eigene Geschlechtlichkeit verzichten will.

Cover Die Summe des Ganzen

Steven Uhly: Die Summe des Ganzen

Roman, 156 Seiten
Secession Verlag 2022

Stolpert die Kirche gerade über ihre eigenen, falschen Vorstellungen von Reinheit?

Die Verdammung von Sexualität als etwas Unreines, das Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben hat, hat meines Erachtens in den christlich geprägten Ländern eine Störung verursacht, von der wir uns erst ganz allmählich erholen, und die mitverantwortlich dafür sein mag, dass manchen Menschen erst gar nichts mit Sex zu tun haben wollen. Man könnte also vermuten, dass die Katholische Kirche ihre Priester in der Regel aus den Reihen derer rekrutiert, die am stärksten von dieser Störung betroffen sind. Und dann muss man sich nicht wundern, dass das nicht gutgeht.

Ich glaube, es gibt nur wenige Menschen, die wirklich jenseits ihrer Geschlechtlichkeit sind und sie einfach nicht mehr brauchen. Für die meisten ist sie eine zentrale und sehr vitale Kraft. Wenn man versucht, sie zu unterdrücken, findet sie Abwege, über die man keine Kontrolle mehr hat.

Sexueller Missbrauch von Minderjährigen ist ein schweres Thema. In der Erzählung gelingt es Ihnen, die Menschen und deren Obsession näher zu sehen. Man begibt sich in die Sicht der Täter – ohne sie gleich zu verurteilen. Wie haben Sie das beim Schreiben bewerkstelligt?

Als Schriftsteller bin ich weniger von Urteilen als von Neugier getrieben. Wenn man urteilt, schreibt man keine Geschichte, sondern man beendet ein Thema. Nach dem Urteil gibt es nichts mehr zu sagen oder zu sehen.

Wenn ich eine Geschichte erzählen will, muss ich dagegen immer offen bleiben für den nächsten Schritt, selbst wenn er ins Verderben führt. Erst dann sehe ich mehr und kann es auch den Lesern vor Augen führen.

Wenn Sie auf den Schreibprozess und das Entwickeln der Romanfiguren schauen: Schaffen Sie die Figuren komplett vorab – oder entwickeln sie sich im Schreibprozess auch noch einmal?

Beides findet statt. Dieses Buch ist ja vom Ende her geschrieben, das heißt, ich wusste bereits was wie geschehen würde. Trotzdem passiert während des eigentlichen Erzählens noch einmal Überraschendes. Wenn die Idee stimmig war, wird einem das laufend bestätigt, weil man viele Möglichkeiten findet, sie noch detaillierter, noch tiefergehend auszuarbeiten.

„Wir sind alle schwarze Schafe“, sagt einer der Protagonisten. Das Buch erzählt vom Gefangensein im eigenen Leben. Die Figuren möchten ihrem eigenen Schicksal entfliehen. Glauben Sie an so etwas wie Erlösung? Und wenn ja: Wie würde die aussehen?

Gute Frage. Ja, ich glaube an Erlösung. Aber ich glaube auch, dass wir dazu erst einmal aufhören müssten, uns für Dinge schuldig zu fühlen, die wir nicht getan haben. Und das ist gar nicht so leicht. Denn oft schleppen wir Schuldgefühle mit uns herum, deren Ursache nicht etwa ein Vergehen ist, sondern die schwer zu ertragende Tatsache, dass wir uns als Kind an einem bestimmten Punkt nicht geliebt fühlten.

Es ist nicht leicht, sich das überhaupt bewusst zu machen. Dafür braucht man Hilfe. Ob die im Beichtstuhl gegeben werden kann, wage ich zu bezweifeln. Dort geht es doch eher um eine Oberfläche aus Gut und Böse.

Interview: Stefan Weigand

Foto: © Matthias Bothor

theo Magazin

Das Interview mit Steven Uhly erschien erstmals im Heft 4/2022 vom theo-Magazin. Das Magazin erscheint in fünf Ausgaben jährlich und greift Themen aus Spiritualität, Glaube, Kirche, Kultur und Gesellschaft auf. Ein Probeheft lässt sich hier bestellen:

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