Manche haben verlernt, sich die Frage zu stellen, was sie wollen
… was wird morgen sein? Natürlich wusste man das noch nie. Die Erfahrungen der letzten beiden Jahre aber haben diese Ungewissheit existentieller werden lassen. Im zweiten Teil ihres Essays berichtet Christine Klimann über jungen Menschen, für die der Supermarkt alles andere als voll ist, und erläutert, warum die Krise ein Katalysator für die Sinnfrage ist.
Es gibt aber noch ganz andere junge Leute, nämlich diejenigen, für die der Supermarkt alles andere als voll ist. Die am Rand stehen, die schon früh die härtesten Seiten des Lebens am eigenen Leib gespürt haben, die wissen, was Ausgegrenztsein bedeutet und Drogen und Gewalt. Sr. Johanna in Leipzig erlebt diese gestrandeten Jugendlichen, wenn sie für ein Pflichtpraktikum zu ihr in die soziale Einrichtung geschickt werden. Es sind junge Menschen, die für sich keine Perspektiven sehen und es daher verlernt haben, sich die Frage zu stellen, was sie wollen. Sinn scheint für sie ein Luxus zu sein, den sie sich nicht leisten können. Wozu also sich mühen, wozu?
Die Krise als Katalysator für die Sinnfrage
Dieser kleine Rundblick mag erahnen lassen, wie breit das Spektrum ist, was junge Menschen heute erleben. Gemeinsam ist ihnen die Erfahrung, in einer unsicheren Welt zu leben. Aber wie sie damit umgehen, ist stark davon geprägt, welchen Hintergrund und welche Ressourcen sie haben. Während bei den einen die äußere Unsicherheit zum Anlass wird, den eigenen Werten und Prioritäten nachzuspüren und nach Wegen zu suchen, ihnen in der konkreten Lebensgestaltung Raum zu geben, fühlen andere sich wie gelähmt. Entweder weil die Fülle an Möglichkeiten sie erschlägt oder weil sie den Eindruck haben, von allen Möglichkeiten abgeschnitten zu sein.
In jedem Fall aber scheint die aktuelle Krise wie ein Katalysator zu wirken, der die Sinnfrage in den Vordergrund spielt.
Eine Frage, die nicht nur für junge Menschen bedrängend bis überfordernd daherkommen kann. Vor allem für diejenigen, die sich dabei alleingelassen fühlen.
Wegbegleitung zwischen Ermutigung und Hilfe zur Entscheidungsfindung
Was dann am dringendsten Not tut, sind Menschen zum Reden. Menschen, die ihnen zuhören, von denen sie sich verstanden fühlen und die helfen zu klären, was denn nächste Schritte sein können. Das kann sehr unterschiedlich sein. Die Jugendlichen von Sr. Johanna, denen alles egal ist, müssen wahrscheinlich erst einmal die Erfahrung machen, dass sie es wert sein könnten, dass sie sich Fragen über sich selbst und ihr Leben stellen.
Wer von der Fülle von Möglichkeiten erschlagen ist, wird lernen müssen, einen inneren Kompass zu entwickeln, der in der Unübersichtlichkeit Richtung weisen kann. Die Wechselwilligen wie Marie, besonders diejenigen, die ins Blaue hinein wechseln wollen, sind gefordert, die Risiken und Chancen, Ängste und Erwartungen ins zu Wort bringen und verschiedene Szenarien zu entwickeln. Denn es gibt auch diejenigen, die vorschnelle Entscheidungen später bereuen.
Hören auf die „inneren Regungen“
Es geht also um Ermutigung, aber auch um Hilfen in der Entscheidungsfindung. Dafür bietet die ignatianische Spiritualität, das heißt die Spiritualität, die auf den heiligen Ignatius von Loyola zurückgeht, eine reiche Fundgrube. Ignatius rät, auf die „mociones“, die inneren Regungen, zu achten und so unterscheiden zu lernen, was zu mehr Leben führt. Mehr Leben, das heißt, wo Begeisterung spürbar wird und ein persönliches Angesprochensein, wo die Lust wächst, sich einzusetzen und so etwas wie Berufung – eine Einladung Gottes an mich – erahnbar werden kann.
Für junge Menschen der Generation Z, die mit dem Smartphone aufgewachsen sind und es gewohnt sind, buchstäblich rund um die Uhr online zu sein, die gleichzeitig lernen, Musik hören, ein Video schauen und mit Freunden chatten können, sind die inneren Regungen oft eine fremde Welt. Eine Welt, die ganz schön Angst machen kann. Es braucht Geduld und gute Mit-Hinhörerinnen und -Hinhörer auf dem Weg, um mit dieser Welt der Sehnsüchte und Ängste, der Hoffnungen und Traurigkeiten, der Enttäuschungen und heimlicher Leidenschaften vertraut zu werden.
Wer lernt, diese eigenen inneren Regungen zu „lesen“ und zu verstehen, wird sich leichter tun, tragfähige Entscheidungen zu treffen und so auch in der Unsicherheit eine Richtschnur haben, die zur Orientierung hilft – hin zu mehr Leben, und vielleicht sogar hin zu der Frage, was denn der ganz persönliche Ruf Gottes sein könnte.
Sinnfrage als Hoffnungszeichen
Dann kann die aktuelle Krise zur Chance werden, weil sie Selbstverständlichkeiten und eingefahrene Wege aufbricht. Auch wenn keiner weiß, welche Entwicklungen die nächste Zeit bringen wird, die „Great Resignation“ scheint ein Trend zu sein, der sich nicht leicht umkehren lässt. Dieser Trend ist übrigens nicht auf die USA oder Europa beschränkt, sondern tatsächlich eine globale Entwicklung, die auch Länder wie China und Indien erfasst: Im Jahr 2021 haben 41 % der arbeitenden Bevölkerung in Betracht gezogen, ihren Job zu wechseln, bei den unter 25-Jährigen waren es sogar 54 %.
Diese Werte haben sich im Vergleich zu den Vorjahren verdoppelt. Menschen, vor allem junge Menschen, sind auf der Suche. Das bringt viele Mühen und die Gefahr des Scheiterns mit sich. Aber: Sie sind nicht mehr geneigt, auf die Sinnfrage zu verzichten und sich zu verbiegen, auch, oder gerade, wenn die allgemeine Lage prekärer wird. Und das wäre ja vielleicht in Zeiten wie diesen tatsächlich ein Hoffnungszeichen.
Zu Teil 1 des Essays
Wo finden junge Menschen Orientierung? Auf diese Frage geht Christine Klimann im ersten Teil ihres Essays ein. Hier gelangen Sie zum Essay:
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