Gegen den Tunnelblick der Politik bei der Pandemiebekämpfung
Dieser Tage las ich einen Leserbrief unter dem Titel: „Leben geht vor Bildung.“ Der Autor bezog sich auf neueste Studien zur Infektiosität von Kindern und Jugendlichen und forderte ultimativ die sofortige Schließung von Kitas und Schulen.
Ganz abgesehen davon, dass wir in den letzten Monaten sehr viele Studien, auch widersprüchliche, über Infektiosität oder Nicht-Infektiosität von Kindern und Jugendlichen zur Kenntnis nehmen durften; ganz abgesehen davon, dass verlässliche (Bildungs-)Politik nicht möglich ist, wenn sie sich bloß an den jeweils neuesten Studien orientiert – was für ein Verständnis von Leben und Bildung spricht eigentlich aus dieser Formel? Ich finde: Ein jämmerliches.
Ein immenser Schulddruck für Kinder
Kinder hören: „Ich bin für andere lebensgefährlich.“ Das Testsystem an den Schulen macht diese Sicht der Gesellschaft für sie täglich physisch erlebbar. Wer positiv ist, hat es dann auch noch schwarz auf weiß, muss in Quarantäne, und ist auch schuld daran, dass viele andere Kontaktpersonen ebenfalls in Quarantäne gehen müssen.
„Leben geht vor Schule?“ Dann lädt man ja sogar Schuld auf sich, wenn man überhaupt in die Schule geht, oder gar noch gehen will.
Auch diese Botschaft ist inzwischen bei vielen Kindern und Jugendlichen angekommen. Sie stellen ihren Wunsch, in der Schule mit Gleichaltrigen zusammen zu sein, zu spielen, zu feiern, zu lachen, sich anzufassen, sich zu umarmen und zu balgen unter Egoismus-Verdacht. Überall Schuld, Schuld, Schuld. Das ist Schulddruck, der Leben zerstört, bis ganz konkret hin zu Suizidgefährdung und Suiziden. Die gehören inzwischen auch zur Kostenseite einer Politik, die mit Tunnelblick auf Corona „um jedes Leben kämpfen will“, und für die „jeder Tote ein Toter zu viel ist“.
Bildung ist den Einsatz von Leben wert
Und was wäre dann in solchen Zeiten Bildung, die diesen Namen verdient? Gerade nicht bloß lernen für den Test und die nächste Versetzung, sondern Räume öffnen für Reflexion, für Gespräch, für soziale Kontakte, für den täglichen Abgleich von Selbst- und Fremdwahrnehmung – und dies nicht nur in den Diskursen zwischen Erwachsenen und Kindern, sondern auch von jungen Menschen untereinander. Bildung ist eine Weise des Daseins, eine Weise zu leben – nicht irgendeine Weise, sondern eine, die mit dem Bewusstsein der Würde menschlichen Lebens einhergeht und an ihr Maß nimmt. Wie will eine Gesellschaft Kindern und Jugendlichen eigentlich deutlich machen, wieviel sie ihnen wert sind, wenn sie nicht bereit ist, im Dienst an der Bildung auch Risiken einzugehen, im Fall der Fälle auch Lebensrisiken? Bildung ist den Einsatz von Leben wert. Von wegen „Leben geht vor Bildung.“