Klaus Mertes SJ Kolumne

MERTES’ MEINUNG

Unselige Zuspitzungen

Wie wir über die Politik von Angela Merkel urteilen können – und wie nicht

Ich schlage die Tageszeitung auf. Großformatig springt mir das Gesicht der Bundeskanzlerin a.D. entgegen. Ihre Augen sind geschlossen, ihre Lippen zu einem selbstzufrieden wirkenden Grinsen zusammengepresst. Darunter steht in großen Lettern: „Ich werde mich nicht entschuldigen“ – gemeint: Für Fehler in ihrer Russland-Politik. Ich finde diese Aufmachung unfair.

Ich persönlich bin der Meinung, dass Frau Merkel im Laufe ihrer langen Amtszeit mehrere gravierende Fehleinschätzungen unterlaufen sind. Zum Beispiel unterstützte sie als Oppositionsführerin den Angriff von Präsident George W. Bush gegen den Irak, als Gerhard Schröder sich dagegen wandte und Deutschland aus dem Krieg heraushielt. Heute wissen wir, dass der Irakkrieg 2013 auf Lügen basierte.

Auch Merkels hohe Emotionalität im Umgang mit Corona konnte ich nicht nachvollziehen, auch nicht die überzogenen Erwartungen, die sie mit dem neuen Impfstoff verband. Bis heute denke ich, dass insbesondere der Umgang mit Kitas und Schulen in der Corona-Krise auf gravierenden Fehleischätzungen beruhte. Sie sind immer noch nicht wirklich aufgearbeitet. Es wird vermutlich eher im Herbst so weitergehen. Schlimm genug.

Ich erwarte keine Entschuldigungen

Es ließe sich noch vieles andere nennen. Aber ich erwarte keine Entschuldigung von Frau Merkel. Ich erwarte sie auch nicht von Herrn Steinmeier oder Frau Schwesig, selbst wenn ich das Projekt nordstream 2 von Anfang an mehr mit den Augen meiner polnischen Freunde angeschaut habe als von deutschen energiewirtschaftlichen Interessen her.

Aber: Welche Person, die je Verantwortung getragen hat, weiß nicht, dass Entscheidungen in komplexen Situationen immer riskant sind, und dass sich Einschätzungen nachträglich als Fehleinschätzungen erweisen können?

Es wird ganz schwer werden, aus Fehlern nachträglich zu lernen, wenn man immer die Kategorie der Schuld in die Diskurse mit hineinmischt und daraufhin zuspitzt: „Haben Sie Schuld auf sich geladen – ja oder nein? Entschuldigen Sie sich!“

Wir fördern auch ganz kontraproduktiv, je mehr wir medial so zuspitzen, das Hochkommen von Politikertypen, die gar keine Selbstzweifel haben. Die werden sicher nie für irgendetwas um Verzeihung bitten. Gewissensqualen sind ihnen eher fremd.

Entlarvte Selbstgerechtigkeit

Der Drang, rückblickend von politischem Spitzenpersonal Entschuldigungen zu verlangen, hat auch etwas von Selbstgerechtigkeit. Mir kommt da immer gleich ein Wort aus dem Evangelium in den Sinn. Es mahnt mich: „Mit demselben Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden.“ (Mt 7,2) Das heißt nicht, dass man gar nichts sagen darf. Aber der Ton macht die Musik.

Die Zuspitzungen auf Schuldfragen atmen schließlich den Ungeist der Eskalation.

Es geht ja den Zeitungen, die solche Aufmacher machen, gar nicht um historische Aufarbeitung, vielmehr um die Erregung von Aufmerksamkeit, und darum, politischen Druck in die eine oder andere Richtung auf jetzige (!) Entscheidungsträger auszuüben. So kommt dann der Krieg in deren Köpfen an, und in den Köpfen beginnt die Unterscheidung zwischen gerechtfertigter Selbstverteidigung gegenüber einem Aggressor und Hass auf den Feind zu verschwimmen. Man merkt es an der Sprache. Und am Ton. Wir haben schon genug Hass in unserer Gesellschaft. Ich will nicht noch mehr davon.


Klaus Mertes

Als Klaus Mertes, geb. 1954, noch nicht wusste, dass er eines Tages Jesuit, Lehrer und Kollegsdirektor werden sollte, hatte er eigentlich zwei Berufswünsche: Entweder in die Politik gehen und Reden halten, oder an die Oper gehen und als Tristan in Isoldes Armen sterben. Rückblickend lässt sich sagen: Als katholischer Priester kann man beides gut kombinieren: Öffentlich reden und öffentlich singen. Die Jugendlichen, die Eltern, die Kolleginnen und Kollegen in den Schulen und alles, was so im Lebensraum Schule und Internat anfallen kann, halfen ihm, vor den großen Fragen nicht zurückzuschrecken und zugleich bei den Antworten nach Möglichkeit nicht abzuheben. Seit Sommer 2020 hat er den Schuldienst nun verlassen und ist seitdem vor allem publizistisch und seelsorglich in Berlin tätig.

Foto: Wolfgang Stahl

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