Tobias Zimmermann SJ Jesuit

HIER SCHREIBT TOBIAS ZIMMERMANN

Deutschland kann Zukunft

Der 15. April 2024 – Eine gemischte Bilanz für die Zukunft

15. April 2024, der Atomausstieg in Deutschland ist nach Jahrzehnten emotionaler Debatte vollzogen. Der letzte Meiler ging vom Netz, ohne dass das Land bereits diesen Winter – wie manche prophezeiten – in Dunkelheit versunken wäre. Auch die Behauptung, der Ausstieg sei erkauft durch eine das Klima belastende verstärkte Verstromung von klimaschädlicher Kohle, entpuppte sich als Fehlinformation. Deutschland selbst verbrannte letztes Jahr so wenig Braunkohle wie seit 60 Jahren nicht mehr. Der CO2-Ausstoß war so niedrig wie noch nie seit der Wiedervereinigung.

Zahlen, die das Fraunhofer-Institut liefert. Fakten, die all jene nicht stoppen werden, die mit diesem Thema Denkmalpflege in ihren bröckelnden politischen Milieus betreiben wollen. Ja, wir kaufen zeitweise Strom aus dem Ausland, weil er dort günstiger ist. Aber nicht in dem Umfang, wie oft prognostiziert wurde, und nicht, weil wir ihn auch in Spitzenzeiten nicht selbst decken könnten. Wir kaufen und verkaufen Strom ins oder aus dem Ausland je nach Bedarf und Preis, z. B. auch, wenn die Kernkraftwerke im Nachbarland Frankreich mal wieder wegen Klima bedingten Niedrigwassers nicht laufen. Und auch der importierte Strom stammt zu 50 % aus regenerativen Energiequellen und keineswegs, wie oft behauptet, hauptsächlich aus Atomstrom oder der Verstromung von Kohle.

Kein universales Rezept

Nein, der Ausstieg aus der Kernkraft ist ganz offensichtlich kein universales Rezept. Andere Länder setzen weiter auf Atomstrom. Da müssen wir uns nur umsehen. Und dafür gibt es – hoffentlich – jeweils gute Gründe. Für Deutschland gab und gibt es gute Gründe, auszusteigen. Und einen wesentlichen liefern nicht die als „Ideologen“ verketzerten Befürworter des Ausstiegs, sondern ausgerechnet die unbelehrbaren Hohepriester der Atomkraft in Deutschland. Da wäre z. B. die bayrische Landesregierung. Sie möchte zwar unverändert gerne den Strom aus der Kernenergie. Mit dem strahlenden Müll sollen sich aber bitte kommende Generationen und die Nachbarn herumschlagen. Es gibt kein akzeptiertes Konzept für den Umgang mit dem strahlenden Erbe.

Und auch die Risiken dieser Technologie sind in einem dicht besiedelten Land wie Deutschland schlicht unkalkulierbar. Dies als Bilanz einer jahrzehntelangen Diskussion festzuhalten, hat rein gar nichts mit Ideologie und sehr viel mit Verantwortung zu tun. Die Reaktorunglücke in Tschernobyl und Fukushima entlarvten die Behauptung der Beherrschbarkeit der Technologie als politisches Wunschdenken. Was ein vergleichbares Unglück in Deutschland angerichtet hätte, mag man sich nicht ausmalen.

Es ist der Weitsicht von Wissenschaftlern, die Jahrzehnte warnten und an Alternativen forschten, der Beharrlichkeit von Aktivisten, die verhinderten, dass das Land sich in gefühlter Sicherheit einlullen ließ, und dem pragmatischen Verantwortungsbewusstsein ausgerechnet einer konservativen Regierungschefin und ihrer Verbündeten zu verdanken, dass eine Debatte, die das Land jahrzehntelang lähmte und am Fortschritt hinderte, beendet werden konnte.

Ein guter Schritt

In meiner Studienzeit konnte selbst an der Universität noch gelehrt werden, mehr als 5 % des Strombedarfs seien auch in Zukunft nicht durch regenerative Energien zu decken. Angeblich eine Frage der Physik. Über das ganze Jahr gesehen lieferten die regenerativen Energiequellen letztes Jahr 60 % des deutschen Stroms. Die Klarheit der Entscheidung gegen die Kernkraft und den nicht zuletzt dadurch ausgelösten Schub an Innovationen verdanken wir einer breiten, unideologischen Allianz verantwortungsbewusster, gesellschaftlicher Kräfte.

Deswegen ist es geradezu paradox, ausgerechnet diese Entscheidung zur Beförderung des Lagerdenkens zu benutzen. Das sollten wir alle, eine breite Mitte der Gesellschaft, nicht zulassen. Umso mehr, als sich – das zeigen die letzten Wochen – diese selbst inzwischen fossile Debatte eben nur durch die Verbreitung von Lügen am Leben halten lässt. Nein, der Ausstieg aus der Kernkraft ist nicht der Königsweg für die ganze Welt. Die Welt muss auch nicht am deutschen Wesen genesen.

Für Deutschland aber ist der Ausstieg ein guter Schritt. Ich feiere ihn! Deutschland kann Zukunft!

Und deshalb sollten wir ganz schnell die kulturellen Gräben aus Debatten, die der Vergangenheit angehören, zuschütten und uns der Zukunft zuwenden, die dringend unserer Aufmerksamkeit bedarf. Insbesondere die Union sollte aufhören, sich an der eigenen Vergangenheit abzuarbeiten. Eine vergleichbare Gefangenheit in vergangenen Debatten hat die SPD als Volkspartei erfolgreich marginalisiert. Schön wäre, wenn die Union nicht denselben Fehler beim Thema Atomausstieg nun wiederholte. Und die Regierung? Die hat gestern beim Thema Klimaschutz einen fantasielosen Verkehrsminister aus seiner Verantwortung für die Zukunft dieses Landes entlassen. Der 15. April 2024. Eine gemischte Bilanz im Blick auf das Prinzip Verantwortung in der Politik und die Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Kein Grund, um die Korken knallen zu lassen. Aber eben auch kein Grund, um sich verunsichern zu lassen.


Tobias Zimmermann SJ

ist Priester, Pädagoge und Jesuit. Als Autor und als Mitbegründer des Zentrums für Ignatianische Pädagogik (ZIP), das er seit Oktober 2019 leitet, arbeitet Tobias Zimmermann an Projekten der Entwicklung der katholischen Schulbildung und Spiritualität, in der Schulentwicklung, im Coaching für Leitungskräfte und in der Fortbildung von Schulleitungen und Pädagogen. Seit Oktober 2019 ist er Direktor des Heinrich Pesch Hauses und wirkt mit an der Weiterentwicklung der Akademie im Bereich Online-Bildung, neue Schwerpunktthemen sowie an der Entwicklung der Heinrich Pesch Siedlung, einem Modellprojekt für soziale und ökologische Stadtentwicklung.

Foto: Stefan Weigand

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