Klaus Mertes SJ Kolumne

Mertes’ Meinung

Die Türen aufmachen!

Warum Deutschland russische Kriegsdienstverweigerer aufnehmen sollte

Sollen junge Männer aus Russland, die sich der Mobilmachung durch Flucht entziehen, bei uns aufgenommen werden? Inzwischen ist es stiller um diese Frage geworden. Das bedeutet aber nicht, dass die Frage weniger brennt.

Für mich war anfangs klar: Natürlich, alle Türen aufmachen! Die Kriegsdienstverweigerer leisten mit ihrer Verweigerung einen Friedensdienst. Denn sie sind Angriffskriegs-Verweigerer. Und sie gefährden sich damit selbst. Deswegen brauchen sie Schutz. Es ist unangemessen, ihnen zu unterstellen, sie wollten „nur“ ihre eigene Haut retten. Wer im Westen so spricht, spricht die Sprache der Kriegsherren im Kreml. Abgesehen davon: Es ist völlig legitim, wenn man seine eigene Haut retten will. Sie ist auch die Haut meiner mich liebenden Eltern, Geschwister und Freunde. Und:

Haben wir in Deutschland nach den Erfahrungen von 1939–1945 immer noch nicht begriffen, dass Kriegsdienstverweigerer weder Feiglinge noch Drückeberger noch Defätisten sind?

Die Kriegsdienstverweigerer tragen dazu bei, in Russland Bewusstsein dafür zu wecken, dass die „Spezialoperation“ gegen die Ukraine ein Krieg ist. Verweigerung in Russland ist ein politisches Signal, am Ende auch ein Signal gegenüber der angegriffenen Ukraine. Geflohene aus der Ukraine und aus Russland werden sich hierzulande miteinander verständigen können auf der Basis einer gemeinsamen Erfahrung, nämlich der Flucht vor dem Aggressor, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Irgendwann werden Ukrainer und Russen wieder zusammenleben müssen. Das muss jetzt schon vorbereitet werden.

Gegenargumente

Doch dann kamen die Gegenargumente. 1. Die sollen in ihrem eigenen Land gegen Putin kämpfen. 2. Es könnten unter den Geflüchteten Agenten sein, die im Westen weiter Putin-Propaganda verbreiten wollen. Beide Argumente kamen auch aus der Ukraine und aus den baltischen Ländern.

Bei allem Respekt vor den Stimmen aus den unmittelbar überfallenen und den unmittelbar bedrohten Ländern: Ich widerspreche. Die Entscheidung zu Widerstand im eigenen Land kann man nicht von außen fordern. Und:

Für einen möglichen Propagandisten, den man aufnimmt, gewinnt man Tausend, die vor Ort die Vorzüge von Rechtsstaat und Demokratie erleben und diese Erfahrung zurückmelden ins
eigene Land.

Inzwischen gibt es die gesicherte Nachricht: Die jungen Männer, die unvorbereitet und schlecht ausgerüstet als Kanonenfutter an die Front geschickt werden, sind mehrheitlich keine Russen. Sie werden vielmehr aus den Minderheiten rekrutiert, vor allem aus den Völkern des Kaukasus. Dahinter steckt ein zynisches, brutales Kalkül der Verantwortlichen im Kreml. Es gibt einen Punkt, an dem man durch Unterlassung von Hilfeleistung zum Komplizen wird. Deswegen bleibe ich dabei: Die Türen aufmachen!


Klaus Mertes

Als Klaus Mertes, geb. 1954, noch nicht wusste, dass er eines Tages Jesuit, Lehrer und Kollegsdirektor werden sollte, hatte er eigentlich zwei Berufswünsche: Entweder in die Politik gehen und Reden halten, oder an die Oper gehen und als Tristan in Isoldes Armen sterben. Rückblickend lässt sich sagen: Als katholischer Priester kann man beides gut kombinieren: Öffentlich reden und öffentlich singen. Die Jugendlichen, die Eltern, die Kolleginnen und Kollegen in den Schulen und alles, was so im Lebensraum Schule und Internat anfallen kann, halfen ihm, vor den großen Fragen nicht zurückzuschrecken und zugleich bei den Antworten nach Möglichkeit nicht abzuheben. Seit Sommer 2020 hat er den Schuldienst nun verlassen und ist seitdem vor allem publizistisch und seelsorglich in Berlin tätig.

Foto: Wolfgang Stahl

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