Klaus Mertes SJ Kolumne

MERTES’ MEINUNG

Ich und die Überforderung

Warum mir gerade Corona-Kurven, Maischberger und Impfstoffbeschaffung egal sind

Bericht aus einer Wohngemeinschaft: Ein Mitbewohner, auf die 90 zugehend, ist seit drei Wochen zu einem schweren Pflegefall geworden. Die Einzelheiten zu beschreiben, erspare ich mir und Ihnen, den Leserinnen und Lesern. Kurz nach Weihnachten dachten wir, er würde bald sterben. Es ist nicht so weit gekommen. In besonders schwierigen Phasen hält uns die Pflege und die Sorge gemeinsam 24 Stunden lang in Atem.

Nachts wechseln sich drei von uns ab, um selbst genug Zeit zum Schlafen zu haben. Kurz nach Weihnachten müssen wir den Notarzt rufen, wegen akuter Schmerzen unseres pflegebedürftigen Mitbewohners. Der holt ihn ab, lässt ihn aber nach einigen Stunden mit dem Notarztwagen zurückbringen – die Schmerzursache ist beseitigt, aber das Krankenhaus ist eben kein Pflegeheim.

Wie weiter?

Das benachbarte Pflegeheim hat keinen Platz. Dort steht er eigentlich auf der Warteliste. Mit Hilfe einer Freundin gelingt es uns, eventuell in einem anderen Pflegeheim vorübergehend einen Platz zu ergattern – vorausgesetzt, unser Mitbewohner ist negativ auf Corona getestet. Wir lassen ihn testen – vier Tage später ist der Befund da: positiv. Daraufhin müssen wir alle für 14 Tage in Quarantäne. Zu beschreiben, was das im Einzelnen bedeutet, erspare ich mir und Ihnen ebenfalls. Wir sind ratlos. Da uns die Windeln fehlen, sind wir nun auf Freunde angewiesen, die sie uns besorgen und vor die Tür legen. Doch woher?

Bei der Krankenkasse ist niemand erreichbar. Die Apotheken rücken nichts raus.

Über verschlungene Wege, die vorerst ein Geheimnis bleiben sollen, gelingt es dann doch, Windeln für die nächsten beiden Tage zu bekommen. Wie es danach weitergeht, wissen wir noch nicht.

In meinen nächtlichen Träumen spüre ich die Überforderung.

Wie kann ich mit dieser Überforderung umgehen? Zuerst einmal ist es wichtig, sie sich einzugestehen und dabei die Ruhe zu bewahren. Das bedeutet auch: Ich schütze den Rest an Ruhe, der noch in mir ist. Ich setze mich nicht vor den Fernseher, um mir in höchster Anspannung anzuschauen, wie der aktuelle Stand der Kurven ist, oder was Frau Maischberger gerade welchem Politiker an Versäumnissen vorwirft, oder warum Herr Lauterbach findet, dass „die Bundesregierung“ (gehört er nicht irgendwie dazu?) schwere Fehler bei der Impfstoffbeschaffung gemacht habe.

Ich lasse das alles beiseite und denke mir: Meine Erfahrung informiert mich auch, und zwar ziemlich reichhaltig und eindrucksvoll. Ich schaue sie an und durchdenke sie – was zeigt sich mir da alles? Die Reflexion meiner eigenen Erfahrungen bringt mich auf Augenhöhe mit dem öffentlichen Diskurs. So bleibe ich Subjekt mitten in der Überforderung.


Klaus Mertes

Als Klaus Mertes, geb. 1954, noch nicht wusste, dass er eines Tages Jesuit, Lehrer und Kollegsdirektor werden sollte, hatte er eigentlich zwei Berufswünsche: Entweder in die Politik gehen und Reden halten, oder an die Oper gehen und als Tristan in Isoldes Armen sterben. Rückblickend lässt sich sagen: Als katholischer Priester kann man beides gut kombinieren: Öffentlich reden und öffentlich singen. Die Jugendlichen, die Eltern, die Kolleginnen und Kollegen in den Schulen und alles, was so im Lebensraum Schule und Internat anfallen kann, halfen ihm, vor den großen Fragen nicht zurückzuschrecken und zugleich bei den Antworten nach Möglichkeit nicht abzuheben. Seit Sommer 2020 hat er den Schuldienst nun verlassen und ist seitdem vor allem publizistisch und seelsorglich in Berlin tätig.

Foto: Wolfgang Stahl

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