Thomas Steinforth

STEINFORTHS MEINUNG

Hilfe für Afghanistan: Stopp oder jetzt erst recht?

Was die Einstellung der Entwicklungshilfe für eines der ärmsten Länder der Welt bedeutet

Afghanistan gehört zu den ärmsten Ländern der Welt und ist auf Geld aus dem Ausland angewiesen. Die Machtübernahme der Taliban wirft eine schwierige Frage auf: Dürfen wir die Entwicklungshilfe fortsetzen, wenn wir zu diesem Zweck mit den neuen Machthabern sprechen und verhandeln müssen und dabei Gefahr laufen, ihre Herrschaft zu stabilisieren?

Fragen dieser Art tauchen in unterschiedlichen Lebensbereichen immer wieder auf – grundsätzlich formuliert: Welche nicht gewollten, schlechten Neben-Wirkungen dürfen und sollen wir in Kauf nehmen, um eine gute Handlung vollziehen zu können? In solchen Fällen sind ethische Differenzierung und Abwägung gefragt – und die ernüchternde Erkenntnis, dass es in der Regel keine einfachen, perfekten Lösungen gibt. Zwar heiligt der gute Zweck nicht jedes Mittel. Allerdings: Wer seine Hände stets rein und unschuldig halten möchte, wird mit diesen mitunter wenig Gutes bewirken können.

Was wollen die Menschen in Afghanistan?

Auch mit Blick auf die genannte Frage ist also Abwägung gefragt. Dazu müssen wir die Perspektive derjenigen einnehmen, um die es vor allem geht (oder doch gehen sollte), und aus dieser Perspektive heraus die Abwägung vornehmen. In diesem Fall müssen wir die Perspektive der notleidenden Menschen einnehmen: Stellen Sie sich vor, Sie leben in einem afghanischen Dorf und wissen nicht, wie es weitergeht, mit Ihnen selbst, mit ihrer Familie. Was würden Sie dann wollen, auch von uns, dem sogenannten „Westen“? Und welche legitimen Ansprüche erwachsen daraus – auch an uns? Wir können nur vermuten, was diese Menschen wollen. Gleichwohl dürfte sich folgendes ableiten lassen:

Humanitäre Hilfe, in der es um die basalen Voraussetzungen des Lebens geht (Ernährung, Gesundheit), soll auf jeden Fall weitergehen und verstärkt werden – auch dann, wenn man dazu mit Menschen sprechen muss, mit denen man nichts zu tun haben möchte, etwa mit lokalen Taliban-Autoritäten, die z. B. einen Konvoi genehmigen müssen. Diese Hilfe ist buchstäblich not-wendig, denn die Not ist groß. Viele Millionen Menschen sind aufgrund extremer Dürrejahre (mit verursacht durch den Klimawandel), Krieg und Corona von Mangelernährung und Hunger bedroht. Hinzu kommen viele Menschen, die im Land vertrieben sind und alles verloren haben.

Ohne Kompromisse geht es nicht

Auch über die akute Nothilfe hinausgehende Projekte von zivilgesellschaftlichen Akteuren (z. B. Bildungsprojekte, Landwirtschaftsprojekte) sollten fortgeführt und finanziell unterstützt werden, sofern die Sicherheitslage es zulässt. Hier stellen sich schwierige Fragen: Welche Kompromisse mit Machthabern sind hinnehmbar, um die Projekte fortzuführen? Wenn etwa eine Weiterführung von Mädchenschulen unter Auflagen gestattet wird – welche Auflagen sind akzeptabel, auch wenn sie eine bittere Einschränkung bedeuten würden?

Welche Kompromisse vertretbar sind, können letztlich nur diejenigen beantworten, die vor Ort mit den Menschen arbeiten und die Situation einschätzen können.

Bis auf weiteres nicht sinnvoll (und de facto weitgehend eingestellt) ist eine Entwicklungszusammenarbeit von Staaten oder multilateralen Organisationen direkt mit dem „Staat“ Afghanistan bzw. mit seiner „Regierung“, etwa durch Finanzhilfen. Das würden vermutlich auch notleidende Menschen nicht befürworten. Ob es irgendwann eine tragfähige Kooperation und z. B. Hilfen mit verbindlichen Auflagen geben kann, von der die Menschen bedeutsamen Nutzen haben, ist noch nicht absehbar. Zum jetzigen Zeitpunkt wird man mit den Taliban allenfalls darüber sprechen können (aber auch müssen), das zivilgesellschaftliche Engagement zuzulassen.

Verantwortung übernehmen

Also: Wie wir in Afghanistan helfen, muss gut überlegt sein. Dass wir überhaupt helfen sollten, sollte jedoch unstrittig sein, und wird auch von den in Afghanistan engagierten kirchlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren gefordert. Wie immer man den Militäreinsatz und das politische Wirken des Westens der letzten 20 Jahre bewertet: Wir haben massiv interveniert und dadurch Verantwortung übernommen – die können wir nicht einfach ablegen. Das Zurücklassen vieler gefährdeter Ortskräfte durch einen schlecht geplanten Abzug war bereits ein Verrat – ein undifferenzierter Stopp von weiterer Hilfe wäre ein zweiter Verrat an denjenigen, die sich vor Ort weiter engagieren wollen und können, und an den notleidenden Menschen.


Thomas Steinforth

Thomas Steinforth gestaltet in der Domberg-Akademie der Erzdiözese München und Freising theologische Erwachsenenbildung in einer vorrangig philosophischen Perspektive und immer mit Bezug zu existenziellen Erfahrungen und Fragen der Menschen sowie gesellschaftlich-politischen Herausforderungen.

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