Marina Bauer ist den Jakobsweg gelaufen – mit Angststörung, aber auch mit Zuversicht. Im Gespräch erzählt sie von ihrer Pilgerzeit
Marina Bauer leidet seit 20 Jahren an einer Angststörung. Zwischenzeitlich konnte sie ihre Wohnung nicht mehr verlassen. 2021 beschloss sie: Ich will mich aus meiner Komfortzone wagen und pilgerte drei Wochen auf dem Jakobsweg. Wir fragen Sie im Interview: Was war Ihre Motivation und was hat sich seit dem Jakobsweg verändert?
Wie kamen Sie angesichts der Angststörung darauf, gerade den Jakobsweg zu laufen?
Viele Jahre hat mich meine Angststörung daran gehindert, die Erfahrungen zu sammeln, die ich gerne machen wollte – wie das Reisen und die Welt zu erkunden. Vor einigen Jahren ist eine Freundin von mir den Jakobsweg gelaufen. Sie hatte dabei viele positive Erfahrungen gesammelt und sagte zu mir, warum ich das nicht auch versuchen wollte. Gerade aufgrund meiner Angststörung hatte ich vorab viele Bedenken. Meine größte Angst war es, mich zu verlaufen und eine Panikattacke zu bekommen, mit der ich nicht umgehen kann.
Das sist ein andereer Text
n, habe ich die Chance zu wachsen und zu lernen, dass ich bestimme Situationen bewältigen kann.
Der Camino gab mir dafür einen sicheren Rahmen, denn ich konnte Tag für Tag entscheiden, wie es mir ging. Ich konnte jederzeit abbrechen, wenn ich das gewollt hätte. Außerdem hatte ich alles, was ich benötigte in meinem Rucksack bei mir. Das gab mir Sicherheit.
Das Wichtigste war jedoch, dass ich bereit war, mich meiner Angst zu stellen.
War das Pilgern alleine, drei Wochen lang, nicht besonders fordernd?
Eine Pilgerschaft ist mit harter körperlicher Arbeit verbunden, denn man läuft viele Tage stundenlang unzählige Kilometer. Hinzu kommen Wetterbedingungen wie Hitze oder Regen, und auch das ungewohnte Gewicht auf dem Rücken ist zerrend. Trotz der Strapazen war es für mich eine unglaubliche Motivation, mein jeweiliges Tagesziel und Santiago de Compostela zu erreichen. Mit der Zeit hatte das regelmäßige Gehen eine meditative Wirkung auf mich und die Gedanken konnten abschalten. Man lebt mehr in dem Augenblick und setzt sich dadurch auch kleinere Ziele.
Einsam habe ich mich auf dem Weg nie gefühlt, selbst, wenn ich alleine auf den Etappen unterwegs war. Auf dem Jakobsweg trifft man schnell auf andere Menschen. Auf dem Camino ist man nie alleine, außer man möchte das. Sich gegenseitig zu bestärken, wenn der andere nicht mehr konnte, war eine wunderschöne Erfahrung. Es herrscht eine unglaubliche Solidarität untereinander. Auch die „Camino-Gespräche“ unterwegs gaben mir Kraft.
Was war das Schwerste auf dem Weg: eher die körperliche oder die psychische Belastung?
Ich denke, dass es schwer ist, diese beiden Komponenten gegeneinander zu bewerten, da sie sich oft gegenseititg bedingen. Der Camino fordert beides gleichermaßen.
Zum Beispiel bin ich geich am ersten Tag auf meine körperlichen Grenzen gestoßen. Ich war aufgeregt und mein Rucksack war mit 12 Kilogramm viel zu schwer. Ich war viel zu lange unterwegs, denn meine erste Etappe betrug um die 25 Kilometer. Außerdem habe ich die Hitze unterschätzt. Das machte sich dann auch mental bemerkbar. Ich wurde unruhig, fühlte mich zittrig und bekam Herzrasen – eine Symptomatik, die ich von einer Panikattacke her kenne.
In diesem Moment kann es eine ebenso große Herausforderung sein, beruhigend auf sich einzuwirken und einen Schritt nach dem nächsten zu gehen. Insgesamt helfen diese Erfahrungen, besser auf seine Grenzen aufzupassen, zu lernen, mehr auf seinen Körper zu hören und wieder seine Balance zu finden.
Als ich am Abend bei meiner Unterkunft herzlich empfangen wurde und einen atemberaubenden Sonnenuntergang sah, da fühlte ich eine angenehme Ruhe in mir. Da wusste ich, dass ich es schaffen und meine Balance finden kann.
Hatte der Jakobsweg für Sie auch eine spirituelle Komponente?
Der Camino, wie auch die Menschen, die ihn gehen, strahlen einen ganz bestimmten Vibe aus, von dem man sich mitreißen lässt. Der resligiös-geschichtliche Weg gibt jedem auf seine Weise eine bestimmte Ruhe und Halt. Außerdem herrscht eine Offenheit zwischen den Pilgern, die man im Alltag oft nicht findet.
Für mich war es ein beruhigendes Gefühl zu spüren, dass ich mit meinen Sorgen und Ängsten nicht alleine bin. Ich werde nie den Moment vergessen, als ich meiner Mitpilgerin von meiner Angststörung erzählt habe und wie gut mir das tat. Ich konnte eine sehr lange Zeit nicht über meine Ängste sprechen. Das war wie ein Befreiungsschlag.
In mir wuchs eine leicht spirituell angehauchte Hoffnung, wenn ich das so bezeichnen darf, auf den Beweis, dass am Ende immer alles gut wird – auch, wenn man sich dabei manchmal verloren fühlen darf.
Was hat sich seit dem Jakobsweg verändert? Der Schlusssatz des Buches lautet ja: „Meine Reise fing gerade erst an.“
Natürlich weiß ich, dass sich meine Ängste, Sorgen und Probleme nach meiner Pilgerschaft nicht einfach in Luft aufgelöst haben. Der Camino hat mir geholfen, über meine Grenzen zu gehen, aber er hat mir auch gezeigt, an welchen Stellen ich weiter an mir arbeiten möchte, wie etwa an meinem Selbstvertrauen.
Die Erfahrung auf dem Camino hat mich auf jeden Fall nachhaltig verändert. Sie hat mir geholfen, wieder Sicherheit in mir und Zuversicht zu fühlen – dass ich es schaffen kann, ein Leben nach meinen Vorstellungen zu gestalten und nicht eines, das von der Angst dominiert wird. Davon profitiere ich heute noch in meinem Alltag, wenn sich die Angst wieder einen Platz in meinem Leben sucht. Dann erinnere ich mich daran, was ich schon alles geschafft habe.
Eine weitere wichtige Erkenntnis war für mich, dass ich meine eigene Komfortzone regelmäßig verlassen muss, um mich zu fordern und weiter zu wachsen. Der Jakobsweg gab mir den Mut, den Ruf meines eigenen Glücks zu folgen. Dieser Ruf wurde nur einige Monate später wieder so stark, dass ich mich ein weiteres Mal losmachte – in ein vermeintlich noch größeres Abenteuer. Dieses Jahr war ich zwei Monate alleine in Panama und Costa Rica unterwegs – und erfüllte mir damit einen weiteren Lebenstraum.
Sie nennen im Buch zehn kurze Ratschläge für zukünftige Pilger („Pilger-Lifehacks“). Gibt es noch einen elften Ratschlag, der Ihnen wichtig ist?
Niemals aufzugeben! Niemand ist alleine und es gibt immer Wege aus jeder Art von Angst.
In ihrem Buch »Muschel, Meer und Mut« beschreibt Marina Bauer ihre Erfahrungen auf dem Jakobsweg. Es ist im September 2022 im echter Verlag erschienen.
Das Interview führte Christoph Kraft
Fotos: privat/Marina Bauer