Warum Johnny Cash auch 20 Jahre nach seinem Tod noch Menschen fasziniert
Johnny Cash wurde jung Superstar der Country-Musik. Abstürze folgten, im Alter wurde er zur lebenden Ikone. Von Krankheit gezeichnet feierte er die größten Erfolge seines Lebens: Country-Sänger Johnny Cash (1932–2003) ist eine Legende der Pop-Geschichte des 20. Jahrhunderts. Doch warum eigentlich fasziniert der Musiker, der eher simple Songs schrieb, die Menschen weltweit? Uwe Birnstein begibt sich auf eine Spurensuche im Leben des Sängers, der am 12. September 2003 starb.
1 – Vergiss nicht, woher du kommst!
„Er brachte nur eine Requisite mit: das alte Kirchengesangbuch seiner Mutter.“ – Für den Fotografen Andy Earl hielt jedes Fotoshooting mit dem kranken Johnny Cash wundersame Überraschungen bereit. 1996 fotografierte er vor einer Hütte in Cashs Wohnort Henderson dessen alte Hände, die das sichtlich oft benutzte „Heavenly Hymns Book“ seiner methodistischen Mutter halten. Kurz vor seinem Tod nahm Cash noch 15 Lieder daraus auf: In seiner brüchigen Stimme schwingen die Erinnerungen mit an damals, Ende der 1930er Jahre in Dyess, einem kleinen Ort in Arkansas, einem der Südstaaten der USA.
Die ganze Familie Cash pflückte Baumwolle. Eine anstrengende Angelegenheit, die Finger bluteten, der Rücken schmerzte. Die Mühe wurde leichter, wenn Mutter Cash Gospels anstimmte. Songs, die die Anstrengung vergessen ließen. Und Songs, die den Sinn des mühsamen Tuns ergründeten: „Der Herr gibt mir Kraft, wenn er mir seine Hand aus dem Himmel entgegenstreckt“. Der Glaube der Mutter, die ärmlichen Verhältnisse, der Familienzusammenhalt in schweren Zeiten: Sein Leben lang verarbeitete J. R. Cash – so sein offizieller Geburtsname – diese Erfahrungen in seinen Liedern.
2 – Lerne, mit Wunden zu leben!
Als Cash zwölf Jahre alt ist, holt sein Vater Ray ihn vom Angeln ab. Erschütterung ist dem sonst so harten Mann ins Gesicht geschrieben: Jack, Johnnys zwei Jahre älterer Bruder, ist bei einem Unfall im Sägewerk schwer verletzt worden. Vier Tage später stirbt er. „Er war mein großer Held, mein bester Freund, mein großer Kumpel und Beschützer. Ich liebte ihn“, blickt Cash später zurück. Johnny durchlebt damals „die tiefste Dunkelheit“, die er je erleben wird. Jacks Tod bleibt „ein großer, kalter, trauriger Fleck“ in seinem Herzen und seiner Seele.
In den Krisenzeiten seines Lebens blickt Cash oft zurück und fragt sich: „Was hätte Jack getan?“ Zu der Wunde, die der Tod gerissen hat, kommt noch eine weitere hinzu: „Es wäre besser gewesen, wenn es dich erwischt hätte“, raunt der Vater ihm eines Tages zu. Abgründig. Als Alkoholiker hat Ray Cash die Familie oft tyrannisiert. Nach Jacks Tod hört er eine Weile lang mit dem Trinken auf, nimmt sogar ein Amt in der Kirche an.
Johnny Cash lässt den Kontakt zu seinen Eltern trotz alledem nie abbrechen. Später, als er Geld hat, kauft er ihnen sogar ein Haus. Er möchte sie in seiner Nähe haben.
3 – Erfülle dir deine Lebensträume!
© UNIVERSAL MUSIC/Presse
Im Februar 1952 ist Johnny Cash ziemlich glücklich, denn er bekommt eine erste Ahnung davon, wie es sich anfühlt, Bühnenstar zu sein. In der bayerischen US-Kaserne Landsberg spielt er mit seiner ersten Band zur Faschings-Party. Die Gitarre hatte er sich für 20 Mark gekauft, drei Akkorde, das reicht. Mit zwei Kumpels hat er eine Band gegründet, die „Landsberg Barbarians“. 200 Dollar Eintrittsgeld kommen zusammen. Das spendet er an eine Stiftung, die sich gegen Kinderlähmung einsetzt.
Glücklich ist Cash auch, weil ein weiterer Traum kurz vor der Erfüllung steht: Bevor er sich bei der Air Force verpflichtet hat und nach Bayern ging, hat er sich heiß in die bildhübsche Vivian Liberto verliebt. Die beiden schicken sich täglich innige Liebesbriefe, schwören sich Treue und nehmen sich vor, zu heiraten und eine Familie zu gründen. So kommt es dann auch: 1954 treten sie vor den Traualtar, in den nächsten Jahren werden sie Eltern von vier Töchtern. Cash lernt Elvis Presley kennen, bekommt einen Plattenvertrag und hat kurz darauf seinen ersten Nummer-eins-Hit: „I Walk the Line“, ein Song über den festen Vorsatz, immer treu und redlich zu sein.
4 – Gesteh dir dein Scheitern ein!
„In line“, also „auf der Spur“ zu bleiben, fällt Johnny Cash schwer. Ständig ist er auf Tournee, fährt täglich Hunderte Kilometer, während zu Hause seine Frau und Töchter warten. Das Tour-Leben zehrt an seinen Nerven. Mit Alkohol versucht er, sich zu beruhigen. Eines Tages bietet ein Freund ihm Amphetamin-Tabletten an. Cash ist geflasht: Auf der Bühne ist er präsent wie nie, die Müdigkeit scheint weggezaubert. Schnell wird er abhängig. Am Ende schluckt er 100 Tabletten in der Woche.
Nachschub besorgt er sich in Mexiko. Einmal wird er geschnappt und landet im Gefängnis. Er magert ab, auf der Bühne versagt manchmal die Stimme. Gleichzeitig verliebt er sich in June Carter, eine prominente Countrysängerin, die er schon lange kennt. Seine Ehe mit Vivian ist gescheitert und wird geschieden. Mit Junes Unterstützung geht Cash sein Suchtproblem an und macht eine Entziehungskur. Ein gemeinsamer Sohn wird geboren, seinen vier Töchtern versucht er ein guter Vater zu bleiben. Mit einer ersten Autobiografie möchte er Menschen ermutigen, mit ihrem Scheitern offen umzugehen: „Dieses Buch wird euch zeigen, dass es auch für Versager Hoffnung gibt!“
5 – Gib dem Glauben Raum!
„I am Bound for the Promised Land!“ – „Ich bin bestimmt für das verheißene Land!“ Die Trost und Kraft spendende Macht des Glaubens lernt Cash als Kind durch Lieder kennen. Während seiner Militärzeit vergisst er Gott, geht auch nicht zur Kirche. Doch je mehr sich seine Lebenskrisen verschärfen, desto mehr erwacht sein Glaube wieder. Als er sich nach Tagen des Alkohol- und Drogendeliriums in einer Höhle verkriecht, um dort zu sterben, macht er eine Gottes-Erfahrung: „Ich spürte, wie mich plötzlich etwas Kraftvolles durchdrang, ein Gefühl vollkommenen Friedens, vollkommener Klarheit, vollkommener Nüchternheit.“
Im Gebet kommt ihm dann die Erkenntnis: „Ich würde sterben, wann Gott es für richtig hielt, nicht wann ich es wollte!“ Cash lebt weiter. Er befreundet sich mit dem bekannten Evangelisten Billy Graham, singt bei vielen seiner Missionsveranstaltungen in großen Stadien. Gegen den Widerstand seiner Plattenfirmen veröffentlicht er Gospel-Langspielplatten. 1973 setzt er ein Herzensprojekt um: In Israel produziert er einen Film über Jesus von Nazareth. „The Gospel Road“ floppt jedoch an den Kinokassen. Sein Glaube gibt Cash Halt und Zuversicht. In jedem seiner Konzerte spielt er neben den Hits auch Gospels. Am Ende seines Lebens hilft der Glaube ihm, mit den eigenen Fehlern umzugehen: „Gott hat mir vergeben. Warum sollte ich mir dann nicht auch selbst vergeben?“
6 – Beachte deine dunkle Seite!
Am 24. Februar 1969 betritt Johnny Cash eine Bühne im „San Quentin State Prison“. Die Häftlinge spüren: Irgendwie ist Cash einer von ihnen, er macht ihnen nichts vor. Er hatte selbst schon mal im Knast gesessen, weiß also, wie es sich anfühlt, eingesperrt zu sein und in Handschellen vorgeführt zu werden. Cash singt den „Folsom Prison Blues“, einen seiner größten Hits. Darin versetzt er sich in einen Gefangenen hinein, der sehnsüchtig einen Zug vorbeirattern hört, mit dem er am liebsten mitführe. Der Gefangene beschreibt die Tat, für die er einsitzt: „Ich habe einen Mann in Reno erschossen, nur um ihn beim Sterben zu beobachten.“ Böser geht’s kaum.
Cashs Glaubwürdigkeit hat einen tiefen Grund: Die Gefängnisinsassen spüren, dass zwei Herzen in seiner Brust schlagen. Er hat eine zugewandte, liebevolle, weiche Seite – und eine dunkle, abgründige. Cash selbst weiß um seine innere Zerrissenheit. Die weiche Seite rühre von seiner Mutter her, mutmaßt er einmal, die harte von seinem oft zornigen Vater. „The Beast in Me“ – In diesem Song beschreibt er im Alter das „Tier“ in sich, vor dem er sich selbst oft hüten muss.
7 – Im Alter wage Neues!
Im August 1983 werden Millionen Fernsehzuschauer in Deutschland Zeugen von Cashs Zustand: Er tritt als Stargast bei „Wetten, dass ..?“ auf. Als er in cooler Kulisse seine Hits „Ring of Fire“ und „I Walk the Line“ singt, wirkt er wie weggetreten. Zwar ist er auch in den USA noch Superstar, doch sein Glanz verlischt langsam. Seine TV-Show wurde abgesetzt, die Plattenverkaufszahlen gehen runter. Krankheiten nagen an seinem giftgeplagten Körper, dem er immer wieder Rückfälle in die Tablettensucht zumutet. 1993 erlebt er jedoch noch einmal eine Wende. Er begegnet Bono, dem Sänger der irischen Band U2.
© UNIVERSAL MUSIC/Presse
Mit Bono eint ihn vieles: das Rebellische, der Eigensinn, der Glaube, der mitunter die Musik als Missionsinstrument nutzt. Für eine U2-Platte singt Cash einen von Bono komponierten Song. „The Wanderer“ schildert eine Art Pilgerreise „mit Bibel und Waffe“ durch die sündige Welt hin zu Jesus. „Country-Sänger Cash singt mit U2 Rockmusik?“, wundern sich die Fans. Viele sind angetan von diesem Wandel. Auch Rick Rubin, einer der erfolgreichsten Produzenten der Pop-Welt, der schon für Rap-Künstler gearbeitet hat, für Heavy-Metal-Bands, für Mick Jagger, die Red Hot Chili Peppers.
Rubins Herz schlägt für Cash; dass die Karriere des alternden Musikers zu Ende sein soll, kann er nicht ertragen. Geduldig und neugierig trifft er sich mit Cash, lernt ihn kennen und lässt sich dessen Lieblingssongs vorspielen. Cash spürt: Dieser junge Mann wird Musik mit ihm produzieren, die würdevoll und tiefsinnig mit seinem Alter umgeht. Cashs Vertrauen wird belohnt: Die „Americana“-CDs, die entstehen, werden zu Cashs größten Erfolgen. Auf den Covern wirkt Cash wie ein Mann Gottes aus biblischen Zeiten.
8 – Fürchte dich nicht vor dem Tod!
Ein Nervenleiden bremst Johnny Cash aus. Doch die Energie, zu singen und aufzutreten, bleibt. Das Publikum liebt ihn weiterhin; durch die „Americana“-CDs haben ihn viele Jüngere erst entdeckt. Seine Stimme ist noch tiefer geworden; ihre Brüchigkeit spiegelt die Lebenserfahrung Cashs, seine Krisen und seinen Glaubensmut wider. Immer wieder muss er für Tage ins Krankenhaus.
Als er gebrechlicher wird, richtet Produzent Rick Rubin ein Studio neben Cashs Wohnhaus ein. Hier singt Cash Songs anderer Künstler, die ihm zu Herzen gehen: „Bridge Over Troubled Water“ von Simon and Garfunkel, „One“ von U2. Ein Song sticht heraus: „Hurt“. Auch in Video-Form wird er zu einer bewegenden Lebensbilanz des schmerzgeplagten „Man in Black“. Gospels nimmt Cash ebenfalls auf. Den Song vom „Wayfaring Stranger“, der sich am Ende seiner Lebensreise auf das Wiedertreffen mit seinen Eltern freut, und den bewegenden Gospelsong „Ain’t no Grave“: „Kein Grab kann meinen Körper festhalten“.
Wie eine Wiedersehenshoffnung für seine Fans wirkt „We’ll Meet Again“. So heißt der Schluss-Song auf seiner letzten CD. Mit brüchiger Stimme singt er: „Ich weiß nicht wo und wann, aber wir werden uns wiedersehen an einem sonnigen Tag.“
Lesetipp
Uwe Birnstein zeichnet Johnny Cashs dramatisches Leben nach: eine spirituelle Spurensuche im Leben und Werk des »Man in Black«, der viele Höllen durchlitt und doch am Himmel festhielt.
Walk on, Johnny Cash!
Warum der „Man in Black“ am liebsten Gospels sang und Trost im Glauben fand
ISBN 978-3-7346-1319-7
Verlag Neue Stadt 2023
Fotos: © UNIVERSAL MUSIC/Presse