Warum unsere Zeit mehr ist, als eine Wartezeit auf das Danach
Es ist nicht sonderlich kreativ, die beiden geprägten Zeiten, in denen wir leben, zu vergleichen: österliches und coronabedingtes Verzichten. Schon im letzten Jahr wurden im ersten Lockdown viele Vergleiche bedient. Mein Eindruck ist, dass viele dieser Vergleiche vor allem auf das Ende, das Ziel, wo es wieder heller wird, sich eine Rettung einstellt, abzielen. 40 Tage Fasten und dann endlich Ostern, 50 Tage Unklarheit und endlich das Brausen vom Heiligen Geist.
Aber geprägte Zeiten sind mehr als eine Wartezeit auf das Danach. In der Fastenzeit geht es nicht nur darum, Ostern, das Kommende in den Blick zu nehmen. Diese geprägten Zeiten sind vor allem auch eine Gelegenheit, das Hier und Jetzt anzuschauen und sich die Frage zu stellen, wie ich mit der Zeit, die mir geschenkt ist, umgehe.
Bei Krisen gibt es eine ganz ähnliche Dynamik. Der französische Philosoph François Jullien stellte kürzlich in einem Interview fest, in Europa würde Krisen wie einem Tunnel begegnet. Das Trügerische an dieser Illusion sei, dass mit dem Bild des Tunnels auch die selbstverständliche Hoffnung verbunden sei, dass man automatisch nach einiger Zeit wieder am anderen Ende rauskäme. Das Licht am Ende des Tunnels bindet meine volle Aufmerksamkeit und kann dazu führen, dass ich zwar in der Gegenwart lebe, aber ohne gegenwärtig zu sein.
Vorher-Nachher
Die christliche (und abendländische) Zeitrechnung ist markiert durch ein Vorher-Nachher. Es ist eine Zeitrechnung, die mit dem Unvorhersehbaren rechnet, das alles ändern kann: Ostern und Auferstehung, Pfingsten und Heiliger Geist.
Die Sehnsucht nach Normalität ist nur verständlich, aber sie birgt die Gefahr, den Blick auf das, was out of the box und jenseits des Tunnels passiert, zu ignorieren.
Die zweite Fastenzeit, die von Corona begleitet wird, kann Raum geben für einen Blick auf das, was jetzt da ist oder vielleicht auch fehlt, ohne im gleichen Atemzug schon den Blick auf das erhoffte Tunnelende zu lenken.
Gerade wenn dieser Tunnel immer neue Kurven bekommt. Und diese zweite Fastenzeit, die von Corona begleitet wird, kann dem Unvorhersehbaren Raum geben, den kleinen Veränderungen, den österlicher Momenten, die nicht dem linearen und repetitiven Kalender folgen, sondern sich einfach ergeben: trotzdem und gerade deshalb.
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