Autor Christian Kelter über sein Buch »Reboot«
Der Schweizer Diakon und Gemeindeleiter Christian Kelter will Kirche neu und anders denken. Jenseits von Phrasen spricht er in seinem Buch „Reboot“ über die Kirche der Zukunft und bringt Beispiele für neue Formen, wie Kirche gelebt werden kann. Einen Auszug seines Buches haben wir bereits vor Kurzem hier auf unserer Seite veröffentlicht. Im Interview spricht er über den titelgebenden „Reboot”, Widerstände und Veränderungen.
Es gibt gerade Rekorde bei den Austrittszahlen. Kirche befindet sich eher auf dem Schrumpfkurs. In Ihrem Buch »Reboot. Jetzt mehr Kirche wagen« sprechen Sie überraschenderweise von »mehr Kirche«. Wie passt das zusammen?
Ich habe gelernt, Kirche weiter zu denken. Die Bibel wird nicht müde, die ganze Welt als Gottes Haus zu bezeichnen. Aus dieser Sicht ist unser heutiger Kirchenbegriff definitiv zu eng. Es geht beim Glauben doch zuerst darum, als Mensch eine persönliche Antwort auf Gottes Liebeswerben zu geben. Und diese Antwort wird immer sehr persönlich und eben individuell sein. Das passt nicht ins kirchliche Denkschema.
Wenn viele heute aus der Kirche austreten, dann sicher deshalb, weil sie die Kirche nur als starre Institution wahrnehmen, die ihnen bei ihrem Christ-Sein nicht hilft. Mit meinem Buch möchte ich ermutigen, da noch mal einen Schritt zurück zu machen: Um was geht es wirklich?
Was fehlt der Kirche gerade am meisten?
Der Kirche fehlt es an Glaubenskraft – ganz ehrlich. Das werden jetzt spontan mal alle entrüstet von sich weisen. Aber hätten wir den Glauben, dass Gott mit uns ist, dass er immer in die Weite führt, in unbekanntes aber „gelobtes“ Land, dann würde sich vieles anders anfühlen und darstellen. Dann müsste die Kirche nicht so fest im Beharrungs- und Selbstverteidigungsmodus hängen.
Nein, die Kirche kommt mir vor, wie ein Verein, der sich in seiner Geschäftsordnung verheddert und den eigentlichen Vereinszweck aus den Augen verloren hat.
Sie arbeiten mit dem Begriff »Reboot«. Was verbirgt sich dahinter?
Das Bild dahinter ist, einen Computer runterzufahren und neu zu starten. Kirchlich gesehen laufen im Moment zu viele Funktionen gleichzeitig. Aber keine läuft richtig gut. Wenn wir die mal runterfahren und dann bei Jesus neu starten, klärt sich vieles von selbst. Dann werden Prioritäten neu und anders gesetzt. Dann denkt man plötzlich vom Evangelium und vom Menschen her. Dann wird es eben auch brauchbar, relevant.
Sie arbeiten in einer Schweizer Gemeinde. Welche Erfahrungen haben Sie mit den Veränderungsprozessen gemacht?
Wir genießen in der Schweizer Kirche viel Freiheit und Autonomie. Das hängt mit unserem demokratischen Selbstverständnis zusammen. Diese Freiheit setzt dann – wunderbarerweise – viele Kräfte frei. Natürlich weiß bei uns auch keiner, wohin Gott uns führt. Auch hat niemand das Patentrezept, wie wir diesen Weg gestalten können. Aber Mut ist schon mehr da, als ich das in Deutschland wahrnehme.
Wir schauen weniger „nach oben“ und mehr auf das, was wir selbst realisieren können. Und das ist eine Menge.
Welche Veränderung hat Sie am meisten überrascht?
Meine größte Freude ist es, wenn Menschen ihre Fähigkeiten und Talente entdecken, sie als Geschenk Gottes annehmen und dann den Mut entwickeln, sie zu entfalten. Ich erlebe das bei Mitarbeiter/-innen im Team aber eben auch bei Menschen in der Pfarrei. Plötzlich ploppt wieder etwas auf, was kein kirchlicher Profi hätte arrangieren können: eine Gruppe gründet sich, eine Initiative oder ein Projekt werden gestartet. Gottes Geist wirkt tatsächlich, wo er will. Wir können die Atmosphäre dafür schaffen und den Freiraum für solches bereitstellen.
Ihr Buch will für die Gute Nachricht motivieren. Was motiviert Sie, wenn Sie in Ihrem Job mal einen schlechten Tag erwischen?
Mich tröstet oft der Seufzer Jesu in Johannes 8,25: „Warum rede ich überhaupt noch mit euch?“ Offensichtlich kannte auch Jesus Frustration und das Gefühl, es bewege sich nichts. Was mir daneben guttut, ist die Vernetzung mit anderen Menschen, der Austausch mit denen, die in der Kirche aber auch sonst in weltlichen Berufen etwas bewegen wollen. Oft habe ich das Gefühl, dass nur bei mir alles so mühsam wäre. Dann sagen mir Freunde aus der Wirtschaft oder aus dem Kulturbetrieb: „Tröste dich, bei uns ist das auch so.“
Das Interview führte Christoph Kraft.
»Reboot. Jetzt mehr Kirche wagen«
„Reboot. Jetzt mehr Kirche wagen“ ist im echter Verlag erschienen (104 Seiten, 12,90 €, ISBN: 978-3-429-05772-5).
Christian Kelter (Jahrgang 1969) wurde in Bad Neuenahr-Ahrweiler geboren. Er studierte Theologie und Philosophie in Bonn und Innsbruck. Als Diakon leitet er heute die Pfarrei Heilig Geist, Hünenberg, im Kanton Zug in der Schweiz.