Warum es gut ist, wenn Kirchen nicht jede Erwartung erfüllen
Ein Bildband über markante Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne? Man könnte meinen, ein solches Buchkonzept lockt heute niemanden mehr hinter dem Ofen hervor. Und doch war die erste Auflage von „Sacred Modernity“ innerhalb von drei Wochen vergriffen. Stefan Weigand hat sich von dem Buch in den Bann ziehen lassen – und erteilt so manchem heimeligen Wunsch an Kirchengebäuden eine Absage.
Der Fotograf Jamie McGregor Smith zog 2018 von London nach Wien und begann, die Architektur der Stadt für sich zu erkunden. Als er die dortige Wotrubakirche betrat, öffnete sich eine neue Welt für ihn: „Ich war fassungslos, dass dieses fortschrittliche Kunstwerk, das aus 152 unregelmäßigen Betonblöcken besteht, von einer so konservativen Institution in Auftrag gegeben wurde. Es definierte meine Vorstellung davon, was eine Kirche sein könnte, schön und brutal zugleich.“
Das war der Anstoß, sich den Sakralbauten der 50er, 60er und 70er Jahre zuzuwenden. Ausgehend von Wien zog es den Fotografen zu Kirchen in Deutschland, der Schweiz, Österreich, England und auch Polen. Die Situation der Corona-Pandemie spielte bei diesem Fotoprojekt eine wichtige Rolle: „Wie durch ein Wunder entdeckte ich, dass die Kirchentüren die einzigen waren, die noch offen standen. Während die Zivilisation den Atem anhielt, bewegte ich mich schweigend durch diese unorthodoxen Räume und versuchte zu verstehen, wie und von wem sie realisiert worden waren.“
Arche, Heiligtum, Omnipräsenz, Transzendenz, Inkarnation …
Auf gut 200 Seiten betritt man in großzügigen Fotografien ganz unterschiedliche Raumkonzepte. Kuben, Zelte, verschachtelte Höhlen, organische Strukturen oder Fachwerkzitate. Arche, Heiligtum, Omnipräsenz, Transzendenz, Inkarnation … Smith hat die Kirchen zu Themenblöcken geordnet. Beton und Glas sind die dominierenden Materialien – und man staunt, wie filigran und mit welcher stilistischen Bandbreite sie die Sakralbauten prägen.
Warum der Bildband so spannend ist? Vielleicht weil er die Augen neu öffnet für eine Bauepoche, die so fest in unseren Sehgewohnheiten verankert ist, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen. Es ist eine Wiederentdeckung von markanten Kirchen, die eben nicht nur reine Kirchengebäude sind. Jamie McGregor Smith bringt es zu zum Ausdruck: „Für mich sind sie Zukunftsvisionen aus der nahen Vergangenheit, und es gibt nichts Vergleichbares in unserer architektonischen Landschaft.“
Segensvolle Enttäuschungen
Es sind Werke, die sich so mancher Erwartung entziehen und es den Besuchern nicht unbedingt leicht machen. Blanke Wände, Sichtbeton, abstrakte Verglasungen. Barockkirchen sehen anders aus, dort gilt eher das Raumprinzip: „Zu viel des Guten ist wunderbar“.
Ich finde es spannend, dass es gerade die vermeintlich leeren Kirchen sind, an denen sich gerade Diskussionen entfalten, was einen sakralen Ort ausmacht – oder mit welchen Wünschen der Einzelne an und in sie hineintritt.
Vor Kurzem war es eine bereits mehrfach veröffentliche Kolumne von Alina Oehler, die eine Polemik von sinkenden Gottesdienstbesuchszahlen mit Beton-Wortspielen („Bye Bye, Beton“) vermengte und die Frage stellte, ob in den Sakralbauten der Moderne kaum mehr Menschen beteten. „Ich fühle mich im weiten, leeren Raum verloren. Mir fehlen die bildhaften Darstellungen meines Glaubens, die Figuren, zu denen ich aufblicken kann, die Inspiration an jeder Ecke“, so benannte Alina Oehler ihren Wunsch an Kirchen.
Dieses Vermissen lässt mich fragen: Nach was sehnt man sich denn eigentlich, wenn man die „Schönheit“ einer Kirche vermisst? Sehnt man sich nach lieblichen Heiligenfiguren, die verträumt ihre Marterwerkzeuge in den Händen halten? Braucht es die Anwesenheit einer Laurentius-Statue samt Feuerrost unbedingt, um zum Gebet zu finden? Ist erst ab einer gewissen Quadratmeterzahl von Rokoko-Stuck eine Besinnung möglich?
Für hyggelige Atmosphären gibt es Cafés
Ich denke, wenn Kirchen alltäglich werden, wenn wir sie zu Wohnzimmern erklären und Leere als Bedrohung wahrnehmen, dann nehmen wir ihnen das Sakrale. Und zugleich erklären wir unseren Glauben zu etwas Kleinem, Domestiziertem: Meine kleine, liebe Welt, in der ich alles kenne, alles weiß und in der mich nichts mehr fordert.
Ich bin überzeugt: Das ist dann kein Glaube an den christlich-jüdischen Gott mehr, sondern ein selbstgeschaffenes Vergewisserungsuniversum mit engen Grenzen. Eine Modelleisenbahnvariante von Weite und Größe.
Den Wunsch nach Behaglichkeit oder gar die Sehnsucht nach Schönheit werden „Beton-Kirchen“ nicht automatisch erfüllen. Aber dazu sind sie auch nicht da; dafür gibt es ja Wohnzimmer oder hyggelige Cafés.
Die Kirchen der Nachkriegsmoderne werden nie Barock-Kirchen infrage stellen oder mit den Bauwerken der Romanik oder Gotik in Konkurrenz treten. Warum sollten sie das eigentlich? Für die Unterschiedlichkeit von Architekturepochen, Baustilen und Kirchenkonzepten sind diese Welt und der Glaube doch groß genug. Und klar: Nicht jede moderne Kirche ist automatisch gelungen, nur weil sie aus der Moderne stammt. Nicht jede Barock-Kirche zeugt automatisch von Erhabenheit, nur weil sie eine Barock-Kirche ist.
Kirchen sind keine religiös-didaktischen Gebäude. Sie sollen den Glauben nicht erklären oder als Ersatz von Religionsunterricht sein. Sie sollen erst einmal Orte sein. Nicht mehr und nicht weniger. Wenn sie für mich Rätsel, Andersorte, oder auch Stätten sind, an denen ich meine eigenen Grenzen und damit das Heilige finde: Umso schöner!
Sacred Modernity
Sacred Modernity versammelt Kirchenbauten der europäischen Nachkriegsmoderne. Kühn, unerhört und provokativ für ihre Zeit, löst diese Ästhetik zwischen Brutalismus und strukturellem Expressionismus noch heute heftige Debatten zwischen Modernisten und Traditionalisten aus.
Ein halbes Jahrhundert später zeigt Jamie McGregor Smiths fotografische Studie, dass diese Zukunftsvisionen aus der Vergangenheit bis heute nichts von ihrer visionären Kraft verloren haben und mit ihren futuristisch, ungewohnten Formen nach wie vor zu den einzigartigsten architektonischen Skulpturen im öffentlichen Raum gehören.
Jamie McGregor Smith
Verlag Hatje Cantz 2024
208 Seiten
ISBN 978-3-7757-5646-4
© Jamie McGregor Smith