Versöhnung  

„Ich weiß nicht, wie man stirbt“

Wie können wir mit Trauer umgehen? Und wie trauernden Menschen helfen? Carsten Habermann ist Hospiz- und Klinikseelsorger und teilt hier mit uns seine persönlichen Erfahrungen.

In einer Dankeskarte schreibt mir die Ehefrau eines Bewohners, den ich als Seelsorger im Hospiz begleitet habe: „Sie haben mir gezeigt, dass man auch mit seinem Schmerz und seinem Kummer weiterleben kann.“ Der Satz berührt mich. Ich habe die beiden Eheleute in Gedanken vor mir: ein eingespieltes Team, beruflich wie privat, seit vielen Jahrzehnten gemeinsam unterwegs. Die Frau sitzt am Bett ihres Mannes, der Krankheitsverlauf nach der Diagnose ist rapide. Die gemeinsame Zeit im Hospiz: kurz bemessen. Verzweiflung, Angst und Trauer erfüllen das Zimmer. Der Ehemann kann nicht mehr verbal kommunizieren. Er ist präfinal, wie es in der Sprache der Medizin und Pflege heißt. In diese Situation komme ich als Seelsorger. Was kann ich tun? Was kann ich sagen?

Konfrontiert werde ich in meiner seelsorgerlichen Begleitung mit meiner eigenen Geschichte, mit meinen persönlichen Erfahrungen in Abschied, Sterben und Trauer. Vor neun Jahren verstarb meine Frau nach fünfjähriger Krebserkrankung. Sie wurde nur 49 Jahre. Mein Sohn war damals gerade mal 15. Meine Frau, Lehrerin für Katholische Religion und Latein, wollte leben und kämpfte gegen die Erkrankung. Sie sagte Ja zu allen ihr angebotenen Therapien. Sie wollte möglichst lange für unseren Sohn da sein. Sie wünschte sich so sehr, noch sein Abitur miterleben zu können. Die Krankheit aber war stärker.

„Ich weiß nicht, wie man stirbt“, sagte meine Frau zu mir. Am Ende ging das Sterben schnell. So konsequent, wie sie über fünf Jahre gekämpft hatte, nahm sie, nachdem sie spürte und es ihr klar wurde, dass es keine weiteren Therapieoptionen mehr gab, Abschied vom Leben. So als hätte sie einen inneren Schalter umgelegt. Selbstbestimmt bis zum Schluss.

Das Bild meiner verstorbenen Frau, gezeichnet von ihrer schweren Erkrankung, hat sich fest in mir eingeprägt. Eine Zeit lang war dies das dominierende Bild, das alles andere überdeckte.

Mit der Zeit kamen andere Bilder dazu. Bilder von gemeinsamen Erlebnissen, heilsame Bilder, von Dankbarkeit erfüllt. So ließen sich die eher dunklen und schweren Bilder und Erinnerungen aushalten. Ich für mich spürte zutiefst, dass meine Frau in die Liebe Gottes hinein gestorben ist.

Familie und Freundinnen kamen zum Abschiednehmen zu uns nach Hause. Mein Sohn saß fast die ganze Zeit am Sterbebett seiner Mutter. Er konnte erzählen, weinen und lachen, sich gemeinsam mit den Besucherinnen erinnern und in der Erinnerung seine Mutter ganz tief in seinem Herzen verankern. Alle Gefühle, die zur Trauer gehören und in ihrer Ambivalenz da sein und ausgedrückt werden dürfen, hatten ihren Platz: Wut, Erleichterung, Dankbarkeit, Verzweiflung, tiefste Traurigkeit.

„Mir fehlen die Worte“

Trauer ist vielfältig und individuell. Jeder hat das Recht, sie auf eigene Weise zu zeigen. Verletzend ist es, wenn man genau dieses Individuelle abgesprochen und gesagt bekommt, wie man richtig zu trauern habe oder gar, wie lange Trauer akzeptabel sei. Verletzend sind die nur scheinbar tröstenden und aufrichtenden Worte wie: „Du bist ja noch jung, du findest jemand Neues an deiner Seite.“ Oder zu meinem Sohn von einer Lehrerin: „Streng dich an in der Schule, deine Mutter im Himmel freut sich darüber.“

Hilfreich hingegen sind Freudinnen, die nicht nur sagen, „Du kannst dich immer bei mir melden“, sondern die von sich aus konkrete Kontaktangebote machen. Zum Spazierengehen, zum Abendessen, zum Konzertbesuch. Hilfreich ist es, der oder dem Trauernden nicht aus dem Weg zu gehen, sondern die eigene Unsicherheit im Umgang auszudrücken: „Mir fehlen die Worte“.

Die Trauer begleitet das gesamte weitere Leben. Das Sterben meiner Frau hat mich verändert und auch meinen Sohn. Scheinbar Selbstverständliches ist nicht selbstverständlich. Es entwickelt sich eine Dankbarkeit für die kleinen Dinge im Leben, für die alltäglichen Wunder.

Mitweinen, mitlachen, erinnern, erzählen

Und es gibt immer wieder Momente, während deren die Traurigkeit und der Schmerz des Abschiedes da sind und Tränen fließen. Hilfreich sind da Menschen, die mitweinen, mitlachen, die sich mit mir erinnern, denen ich Geschichten immer wieder erzählen kann, die mich nicht mit gut gemeinten Ratschlägen oder frommen Floskeln trösten wollen. Jene, die mit mir die Situationen in all ihren Dimensionen aushalten, dabeibleiben, ohne große Worte.

„Da sein, wenn Worte fehlen.
Zuhören, wenn es schreit
in Menschen.
Ohnmacht aushalten
Bei durch-kreuzten Hoffnungen
nicht davonspringen, sondern standhalten“.
Pierre Stutz

Und genau dies kann ich als Seelsorger in der Klinik und im Hospiz tun. Wie ich es beim Betreten des Zimmers des Ehepaares tat: mit aushalten und einfühlsam dabeibleiben, mich berühren lassen, eine Wegstrecke mitgehen, Beziehung anbieten und zulassen, spüren, was mein Gegenüber braucht. Antwort geben zu (meinen) spirituellen Kraftquellen und Haltepunkten.

Das Jesuiten-Magazin

Dieser Beitrag stammt aus der Ausgabe 3/2024 vom Jesuiten-Magazin. Das Heft widmet sich dem Thema »heilsam« und versammelt Beiträge aus dem Kontext der Jesuiten, aus den Humanwissenschaften und der Gesellschaft.

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Foto © Marcos Ferreiro/photocase.com


Carsten Habermann

ist Hospiz- und Klinikseelsorger in Erfurt und empfindet es als heilsam, immer authentischer im Hier und Jetzt zu leben.

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