Justus Geilhufe

Zusammenleben  

„Die Widersprüche sind die Hoffnung“

Mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschland gehören keiner Kirche mehr an. Die Austrittszahlen sowohl auf katholischer als auch auf evangelischer Seite sind so hoch wie nie. Wir leben in einem entkirchlichten Land, urteilt Justus Geilhufe. Er ist Pfarrer in Sachsen und hat ein Buch über die atheistische Gesellschaft und ihr Kirche verfasst. Hat die Kirche überhaupt noch einen Stellenwert – und wenn ja: welchen? Im Interview gibt er Auskunft.

In Ihrem Buch ziehen Sie Parallelen hinsichtlich der religiösen Verfasstheit der heutigen Gesellschaft in Deutschland zur Situation in der DDR. Welche Ähnlichkeiten sehen Sie da genau?

Bei einer Lesung hatte ich die sehr kluge Rückfrage, ob ich die Gesellschaften der DDR mit denen unserer Bundesrepublik vergleiche. Darüber bin ich erschrocken, weil das keinesfalls mein Anliegen ist. Die DDR war ein Unrechtsstaat, unser Land heute ist das Gegenteil. Wovon ich in meinem Buch erzähle, ist, dass ich die gleichen Menschen treffe, wie in meiner Kindheit Die gleichen Menschen, wie jene, die die DDR hervorgebracht hatte. Juri Levada hat sie den Homo Sovieticus genannt. Für mich sind es einfach die Menschen der atheistischen Gesellschaft.

Jene Menschen, die keine Berührung mit der Kirche und ihrem Glauben haben und daher in einem eigenartig sterilen, leblosen Trott etwas ganz individuell Richtiges, Gutes oder Schönes erschaffen wollen und dabei regelmäßig zum Nachteil aller scheitern.

Haben Sie den Eindruck, dass die Kirche selbst manchmal vergisst, welche Bedeutung sie für die Gesellschaft hat?

Oh ja, das hat sie, und die Konfession ist dabei irrelevant. Die Kirche ist in einer tiefgreifenden Identitätskrise, deren Ausmaß uns allen noch nicht bewusst ist. Sie hat sich selbst handlungsunfähig gemacht und ist damit genauso wie die Kirche meiner Kindheit zu einem stummen Beobachter der Menschen geworden. Stumm und ohne Wirkung, geschweige denn Anziehungskraft.

Der Unterschied zwischen der Kirche meiner Kindheit und der Kirche heute ist, dass die Kirche meiner Kindheit mit Gewalt durch den sozialistischen Staat in diese Rolle gedrängt wurde. Die Kirche heute hat es selber dorthin gebracht.

Auf was müssten denn die Gesellschaft eigentlich verzichten, wenn es Kirche nicht mehr gibt?

Die Gesellschaft verliert mit der Kirche den Ort, an dem ihre Widersprüche existieren dürfen, ohne die Menschen kaputt zu machen. Der Mensch heute denkt zunehmend, er könnte die Widersprüche, die jedes Leben mit sich bringt, eliminieren. Das Resultat ist aber ein Leben, das am Ende keines ist, weil nur die Widersprüche des Menschen seine Menschlichkeit offenbaren. Deshalb ist der Ort, wo sie zur Sprache kommen und wir uns mit ihnen versöhnen, so entscheidend für unser Leben. Dieser Ort ist aber der Altar. Und, wenn wir den abschaffen, bleibt eine hoffnungslose Gesellschaft zurück. Das ist übrigens nicht meine Einsicht, sondern Bertolt Brechts. Von ihm stammt der Satz „Die Widersprüche sind die Hoffnung.“ Den Altar habe ich ergänzt.

Hochzeiten, Beerdigungen … Prägende Lebensereignisse waren früher in der Kirche verortet. Das ist heute anders. Warum schafft es Kirche gerade nicht, bei diesen Lebenswenden angefragt zu werden?

Die Menschen erkennen heute nicht, was es für einen Unterschied macht in der Kirche zu sein. Das ist der Grund für die Austritte und die Orientierung an den trostlosen und hässlichen Angeboten, die die Welt da draußen für solche Momente bereithält.

Wenige treten aus Hass auf die Institution oder Gott aus. Fast alle sind sich einfach nicht im Klaren darüber, was für einen Sinn es macht, Kirchensteuer für etwas zu zahlen, was mein Leben nicht verändert. Deshalb treten sie aus, wenn sie bei ersten Gehaltsscheck sehen, was für die Kirche davon abgeht.

Die Kirche und ihre Vertreter versuchen zunehmen darauf zu reagieren, indem sie die weltlichen Angebote in ihrer Ästhetik aber damit auch inhaltlich kopiert und gräbt ihr Loch damit nur noch weiter. Das ist kein Plädoyer für Konservativismus aber es ist die Beobachtung, dass das, was wir an Tradition haben, inhaltlich wie in seiner Form ein großer Schatz ist, der aber wertlos wird, wenn man die ganze Zeit den Menschen da draußen erzählt, dass es nix für sie ist.

Und was vermissen Sie selbst an Ihrer Kirche?

Ich lebe in dem besonderen Stand der Gnade im Moment sächsischer Dorfpfarrer zu sein, da vermisst man an seiner Kirche im Grunde nichts. Was ich an der Kirche, so wie sie in der Öffentlichkeit unserer Gesellschaft auftritt, vermisse, ist ein Ernst im Hinblick auf die Inhalte unseres Glaubens und eine Leichtigkeit im Hinblick auf die Fehler und Schwächen der Menschen da draußen. Beides hängt natürlich unmittelbar zusammen.

Wenn ich die Weite der Kirchengeschichte und die Tiefe der traditionellen Rituale, die Jesus in diese Welt immer wieder neu hineinbringen, kaum mehr habe, dann werde ich dünnhäutig im Verhältnis zur Welt um mich herum. Und so fange ich an Ratschläge zu geben, wo Offenheit und Versöhnung notwendig wäre. Wenn wir schaffen würden, das umzukehren, wäre das heilsam für uns und die Menschen.

In Ihren Schilderungen blitzt immer wieder Ihr Faible für Ästhetik durch. Haben Sie als evangelischer Pfarrer auch einen Zugang zum katholischen Glauben mit seinen Ritualen und Liturgie, die die Sinne ansprechen?

Auch in dieser Hinsicht scheint meine Biografie von der Sonne geküsst: Ich habe eine katholische Frau. Dadurch bleibt die Welt der Ökumene für mich immer eine offene und natürlich gibt es die vielleicht aus lutherischer Sicht schwachen Momente, in denen man sich fragt, ob man nicht diesen unschätzbaren Reichtum der katholischen Sinneswelt, in der es für alles einen Zuständigen, für alles einen Vorgang und auf alles eine Antwort gibt, nicht doch zu seinem eigenen machen will. Und dann schauen die strengen von der harten Arbeit in den sächsischen Landpfarreien gegerbten Gesichter meiner Vorgänger über meine Schulter und gemahnen strenge Konzentration auf das Kreuz und das Kreuz allein. Dann ist alles wieder im Lot und die katholische Kirche lutherischen Ritus bleibt zunächst ein Traum, um dessen Wirklichkeit wir beten können.

Interview: Stefan Weigand

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„Ich liebe meine Kirche, aber ich verzweifle an ihr.“ – ein bemerkenswerter Satz aus dem Munde eines evangelischen Pfarrers. Justus Geilhufe hat sich an zwei Dinge gewöhnt: an die allzu erwartbaren Äußerungen der EKD und ihre notorische Selbstüberschätzung, aber auch an die lebendige, beinahe anarchische Kraft des Glaubens an der Basis, besonders im Osten Deutschlands. Hier sei bereits Realität, was dem Westen noch bevorstehe, nämlich völliges Desinteresse an Kirchenpolitik. Dafür wächst das Interesse an der Botschaft und dem Vorbild Jesu. Ein ebenso persönlicher wie provokanter Bericht über verdrängte Realitäten der Kirche und neue Chancen für den Glauben.

Claudius Verlag, 2. Auflage 2024
ISBN 978-3-532-62893-5

Foto: SZ/ Veit Hengst


Justus Geilhufe

Nach Theologiestudium in Jena, Princeton, München, Leipzig und Göttingen und Philosophie und sowie Leadership bei den Münchner Jesuiten ging Justus Geilhufe in den Dienst der Sächsischen Landeskirche, den er heute, verheiratet mit zwei Söhnen, in Großschirma bei Freiberg im Erzgebirge versieht. Manchmal schreibt er darüber. Die Taufen gleichen die Austritte und Sterbefälle in seiner Gemeinde mehr als aus.

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