Versöhnung  

Denkzwänge aufbrechen

Wie Kirche es schafft, sich zu verändern

Kirche braucht einen Neuaufbruch – so die weit verbreitete Forderung. Aber wie schafft es Kirche, sich aus den immergleichen Perspektiven und Denkstilen zu befreien? Der Theologie und Soziologe Michael N. Ebertz zeigt, wie Kirche zu Lernprozessen käme – und führt den Begriff der »Arenen« ein.

Im Wissen, dass die unmittelbare Verständigung zwischen Anhängern unterschiedlicher Denkstile, gelinde gesagt, schwierig ist, scheint es mir notwendig, darauf hinzuarbeiten, den kirchenoffiziell vorherrschenden Denkstil und Denkzwang zu transformieren und damit die Lernfähigkeit im kirchlichen Feld zu steigern. Ihm wird eine ‚trained incapacity‘ diagnostiziert.

Zwar könne man „nicht mit vollem Ernst behaupten“, so einmal der niederländische Soziologe Leo Laeyendecker, „eine kirchliche Organisation mit einem Lebensalter von fast 2000 Jahren besäße keine Lernfähigkeit. Ihre heutige Form ist ja gerade das Resultat eines Lernprozesses, der in vieler Hinsicht auch außerordentlich gut gelungen ist“. Aber, so schreibt er weiter,

„das Problem liegt anderswo. Es bezieht sich auf ein Paradox. Der Erfolg dieses gelungenen Prozesses steht einem neuen und radikalen Lernen im Wege. Die alten Methoden genügen den veränderten Umständen nicht länger. Die Kirche ist also das Opfer ihres Erfolgs […] Ihre Lernfähigkeit ist zwar nicht völlig verschwunden, aber doch beträchtlich eingeschränkt worden“.[1]

Arenen der Multiperspektivität

Um dieser Einschränkung entgegenzuwirken, schlage ich vor, auf vielen Ebenen im kirchlichen Feld Arenen der Multiperspektivität zu implementieren. In diesen Arenen – ich meide bewusst den Ausdruck Synode – wären themen-, lösungs- und entscheidungsorientierte Dialoge zu führen, und sie wären nicht bloß temporär zu initiieren, sondern auf Dauer zu stellen und – je nach Entscheidungsmaterie – zwischen allen Ebenen der Kirche miteinander zu verknüpfen.

In ihnen wären nicht nur Theologenkommissionen zusammenzubringen, sondern auch Laien, die ja als Individuen „mehreren Denkgemeinschaften“[2] angehören. Als Repräsentant*innen unterschiedlicher gesellschaftlicher Felder sind sie dazu fähig, Denkzwänge aufzubrechen, eingefahrene Denkstile zu ergänzen, zu erweitern und umzuwandeln, aber auch die an den Spitzen von Organisationen herrschende und unüberwindbare „Knappheit von Bewußtsein“[3] zu überwinden. Es geht somit um den Einbau der Blicke von ‚außen‘, um die Wertschätzung des ‚fremden Blicks‘, ja darum, in zivilisierter, d. h. geregelter Weise ganz gezielt auch ‚Anders-‘ und ‚Gegenkräfte zu aktivieren‘.[4]

Lernen könnte darüber offensiv und in anderer Weise als bisher gestaltet werden. Lernen darf (nicht nur) defensiv, beharrend und im Zweigenerationenrhythmus nachklappend, vor allem dazu dienen, die institutionelle Selbststabilität zu befördern und externe Bedrohungen abzuwehren. Es müsste vielmehr darauf gerichtet sein, solche ‚Bedrohungen‘ in kollektive Reflexionsanstöße zu verwandeln, die in – auch dezentrale – Entscheidungen münden.

Das hat nichts mit ‚modischer Anpassung an den Zeitgeist‘ oder Bedrohung der ‚Einheit‘, sondern damit zu tun, Verluste an wertvollen Erfahrungen zu vermeiden und zu verhindern, dass die offizielle Kirche repetitiv museale, ja fossile Sätze produziert. Zweck ist eine kontinuierliche und sich steigernde Lernfähigkeit der katholischen Kirche. Der ‚Synodale Weg‘ in Deutschland wird dieser Leitidee der Multiperspektivität ansatzweise, aber eben auch nur so, gerecht. Dies gilt auch für die meisten anderen kirchlichen Gremien, weil sie nicht alle relevanten Milieus repräsentieren.

Buchempfehlung:

Ebertz Buch Entmachtung

Dieser Essay ist ein Auszug aus dem Buch »Entmachtung. 4 Thesen zu Gegenwart und Zukunft der Kirche« (Patmos Verlag Ostfildern 2021). Der Text stammt aus Kapitel 3.3 Ausblick: Multiperspektivität, Seiten 113–116.

Zum Buch

Aus den Familien kommt der Nachwuchs für die Kirche nicht mehr wie früher. Die Kirche hat die Lufthoheit über Körper, Geist und Seele der Einzelnen verloren. Entsprechend bunt sind ihre Mitglieder zusammengesetzt, die ihrerseits mit der pluralen Gesellschaft verflochten sind. Die Debatten zeigen, dass der Sinn von Kirche nicht mehr klar ist. Sie werfen die Frage auf, welche Möglichkeiten sich eröffnen, Menschen zu einer christlichen Lebensführung zu bewegen.

Michael N. Ebertz beschreibt nicht nur diese existenziellen Zäsuren, sondern analysiert die Hintergründe und Zusammenhänge der Entmachtung der Kirche – und skizziert die Richtung möglicher Wege in eine Zukunft.

„Lebensform des Wechsels“

Indem neben die Leitwährung der Attraktivität (vgl. These 1) und die Leitidee der Wertorientierung und Inklusion (vgl. These 2) die der dialogischen Multiperspektivität tritt, könnte auch Abwanderung (‚exit‘) im quantitativen Sinn gebremst werden, da im kirchlichen Feld zunehmend damit zu rechnen ist, in Zukunft noch stärker vom Modus des ‚Ausweichens‘, der für die heutigen Lebensformen typisch geworden ist, betroffen zu sein, als es ohnehin schon der Fall ist.

Diese vorherrschende Kultur, welche die „Lebensform des Wechsels“ präferiert, steht konträr zu einer „Kultur, die das Opfer sucht“ und menschliches Schicksal, Leiden und Tradition einfach hinnimmt.[5] So wählen viele Kirchenmitglieder ganz unterschiedliche Formen des Ausweichens, treffen die Option des Disengagements, resignieren, machen sich rar, ziehen sich heraus, auch aus ihren bisherigen ‚Kirchenfalten‘. Oder sie treffen die Exit-Option, weil ihre Stimme (‚voice‘) nicht erfragt, nicht gehört und schon gar nicht erhört wird.[6] Was hätten sie auch – außerhalb der Kirchenverwaltungen, wo sie bürokratisch bearbeitet werden –, für eine ernstzunehmende Adresse? Wohin sollen sie sich wenden?

Eine andere Form des Ausweichens besteht darin, über die Verbreitungsmedien die Stimme zu erheben und somit kirchliche Themen auch nach Stil und Ausdrucksweise so in die eigendynamischen Arenen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit zu ziehen, dass sie dem Image des kirchlichen Feldes und seiner Akteure schaden.

Die Kirche selbst leidet einen Verlust, wenn sie die Ausweich-Optionen gerade derer befördert, die eine hohe Motivation aufbringen, ihre Stimme zu erheben, weil ihnen – aus welchen gemischten Motivationen auch immer – die Zukunft der Kirche etwas bedeutet.

Ihre vielfältigen Wahrnehmungen und Erfahrungen – auch die von Minderheiten – können als Anregung für Veränderungen wertgeschätzt werden. So sind, denke ich, Bedingungen auch mitgliedschaftlicher Mitbestimmung und Führungsausübung zu schaffen, die weit über das hinausgehen, was den heutigen kirchlichen ‚Gremien‘ an Mitwirkungsmöglichkeiten zugestanden wird.


[1] Laeyendecker, Die beschränkte Lernfähigkeit der Kirchen, 104.

[2] Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 144.

[3] Luhmann, Der neue Chef, 93.

[4] Vgl. Hirschman, Abwanderung und Widerspruch, 13.

[5] Dirk Baecker, Welchen Beitrag kann die Kultur zur Bewältigung der Corona-Krise leisten?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2021, 19–26, 19.

[6] Die Exit-Option kann sogar durch allerhöchste Amtsvertreter nahegelegt werden. So habe Papst Franziskus Sr. Katharina Ganz „stellvertretend für alle Ordensoberinnen“ geraten, „sie [sic!] könnten sich eine ‚andere Kirche‘ machen, wenn Sie mit den Zulassungsbedingungen zum Weiheamt nicht einverstanden seien“; vgl. Katharina Ganz im Interview mit Daniel Deckers: „Frauen müssen die Machtfrage stellen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.09.2019, 4.

Foto: © CL/photocase.com


Michael N. Ebertz

Dr. rer. soc. habil., Dr. theol., ist Professor an der Katholischen Hochschule Freiburg. Er nimmt Lehraufträge an mehreren Hochschulen wahr. Er gehört er zu den bekanntesten Soziologen des deutschen Sprachraums und hat sich vor allem auf dem Gebiet der Religions- und Kirchensoziologe einen Namen gemacht. Als Autor wegweisender Bücher ist er für seine klaren Analysen geschätzt; er begleitet pastorale Forschungs- und Reformprojekte.

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08.09.2024 Zusammenleben

Der wilde Gott des Rock

Nick Cave als christlicher Musiker Mit »Wild God« hat der Rockmusiker Nick Cave gemeinsam mit seiner Band »The bad seeds« ein großartiges Album geschaffen. Nicht nur musikalisch ist das Werk ein Meilenstein – auch die Texte stechen hervor: In Songs geht es expliziter um Gott als jemals zuvor auf den 20 Vorgängeralben. Frank Berzbach hat sich seit Jahren der Musik und der Lyrik von Nick Cave verschrieben. Hier geht er dem neuen Album tiefer auf den Grund. Nick Cave, so hat es James Murphy einmal gesagt, ist der letzte große Mystiker der Rockmusik. Damit stellt er ihn zurecht in die religiöse Ecke. Mehr noch: Cave selbst vermeidet sogar die Konsensformel der »Spiritualität«, dies sei ihm zu unspezifisch, ihn interessiert ganz konkret das Christentum. Er hält sich gern in den alten Kirchen auf, schätzt die gewachsene Unordnung dieser Raritätenkabinette und die Irrationalität des Glaubens. Schon mit Anfang 20 wurde er zum Bibelleser. Da machte er noch Musik, mit der die Amtskirche sicher wenig anfangen kann. In einem Vortrag berichtete Cave davon, dass er Rivers of Babylon von Boney M im Radio hörte, eine Vertonung des Pslam 137 – und das habe ihn inspiriert; auch wird er in dieser Zeit Patti Smiths Song über Psalm 23 nicht überhört haben. Cave gehört zu den Größen des Pop, die man ohne christliche Bezüge überhaupt nicht verstehen kann, ähnlich wie es bei Elvis oder Johnny Cash, Bob Dylan, Sam Cooke oder Cleo Sol ist. Es geht dabei nicht nur um »Wurzeln«, sondern um das jeweils individuelle Christentum dieser Künstler, der Reiberei mit Gott und der Orientierung an den biblischen Erzählungen. Sie sind Cave ein unendlicher Fundus.   Kein Verkünder – sondern Sucher Es gibt ganz unterschiedliche Weisen sich in die Tradition christlicher Musik zu stellen. Sie wird direkt für die Heilige Messe komponiert, es werden Passionen entworfen, man kann als Liedermacher für die christliche Mission werben oder wie Johnny Cash in Gefängniskonzerten vor Straftätern ein Werk der Barmherzigkeit tätigen. Cash lies Billy Graham auf seinem Man in black-Album direkt predigen. Auf den beiden christlichen Alben von Bob Dylan geht es irritierend frömmelnd zu. Der Saxophonist John Coltrane vertonte ein eigenes Gebet zum Jazzklassiker A Love Supreme. All das wird Cave kennen, um schließlich ganz eigene Wege zu gehen. Sein Gottesbild ist von Zweifeln geprägt, der Rockmusiker ist kein Verkünder, sondern ein Sucher. Er predigt nicht, er erzählt Geschichten. Nimmt man die Kardinaltugenden, so sind die Liebe und der Glaube in Nick Caves Musik zentral – die Hoffnung bleibt allerdings in den düsteren vom Bluesrock beeinflussten Songs aus. Enttäuschend, sogar für den Schöpfer An seiner Stelle steht etwas, dass ihm an der Bibel anzieht: Gemetzel, Gewalt, Rache und Schuld. Das färbt jedoch nicht alles schwarz, Cave ist weder ironisch, noch zynisch oder gar Pessimist. Es ist eine gläubige Wut, ein gläubiger Abgrund, aus dem diese Musik erklingt. Zu seinem neuen Album Wild God sagte er in einem Interview, er stelle sich Gott durchaus wütend vor: Voller Zorn auf einen Menschen, der nach der Vertreibung aus dem Paradies nicht still hält und sich bessert – sondern mit einem Brudermord anfängt. Das ist enttäuschend, sogar für den Schöpfer. Nicht nur den Menschen fehlt Gott – Gott trauert auch um die Menschen, die nicht mehr an ihn glauben. Der Mensch hat ein Ziel in Gott, seine Kreativität speist sich aus der Sehnsucht. Und beides ist Gott wohl wichtig, er hat gern Teil und Glück an der menschlichen Kunst. Das rückt Caves christliche Musikphilosophie nahe an einen Gedanken, den der Romancier Neil Gaiman im Roman American Gods für die nordischen Götter gewaltvoll durchgespielt hat. Odin, Thor, Frigg, Loki und andere leben in den USA im Exil, und sie verlieren an Macht, weil weniger Menschen an sie glauben. In den Kampf mit anderen Göttern wird der menschliche Protagonist, der gerade aus dem Gefängnis kommt, verwickelt. Auch im Kosmos von Nick Cave braucht der christliche Gott den Menschen, wie der ihn. Und wir sind in dessen Zorn und Strahlkraft, in Schuld und Schöpfung verwickelt. Ohne Gott gäbe es gar keine Geschichten, keine Offenbarungen, weder Wissen noch Sündenfall. Eine Welt ohne Gott, ein Land der Gottlosen, ist für Cave leer und hässlich, es ist ohne Liebe und damit ohne ästhetische Bedeutung. Er besingt einen Gott, der dort Anwesend ist, wo es brennt – in drastischen Formen von Begierde und Leid, Gott und Mensch sind auf der Flucht und gesuchte Mörder, der Mensch ist ihm ein »wanted man«. Der Thron Gottes wird da durchaus zum Elektrischen Stuhl, aber es bleibt eben auch die Gnade. Schreibmaschine und Polaroid, Stifte und Papier, Bücherstapel Diese schwarze Romantik hat bei dem inzwischen 67 Jahre alten Nick Cave nicht mehr heroin-selige Züge, seine Erzählwelten sind nicht heller, aber sie sind ruhiger und inniger als in frühen Jahren. Über die Augenblicke aufblitzender Schönheit schleicht sich die Hoffnung ein. In den neueren Songs geht es expliziter um Gott als jemals zuvor auf den 20 Vorgängeralben. In einem Stück fliegt der mit wehendem weißen Haar durch ein Zimmer in Brighton, Bilder entstehen wie William Blake sie geschaffen hat. Der belesene Nick Cave ist ganz der Sohn eines australischen Literaturlehrers und einer Bibliothekarin, er versteht sich als Dichter, der für seine Poesie dann noch Musik komponiert, um sie besser vortragen zu können. Auch da scheint er seelenverwandt mit Vorbildern wie Leonard Cohen oder Johnny Cash. Im Song Frogs geht ein Paar sonntags durch den Regen vom Gottesdienst zurück nach Hause und denkt nach über die Geschichte von Kain und Abel. Am Wegesrand springen die Frösche, ein grünes Zeichen der Vitalität. Am Ende denkt der Erzähler an einen Song des Country-Musikers Kris Kristofferson und spielt darauf an. Cave sucht im Christentum keine Moral, nicht einmal den Zeitgeist. Ähnlich wie Proust ist er an den alten Kirchen interessiert, an archaischen Geschichten und imaginierten heiligen Orten. Er ist ein analoger Arbeiter, die Fotos seines Schreibtisches – sein Hauptquartier – zeigen Schreibmaschine und Polaroid, Stifte und Papier, Bücherstapel: Dabei heraus kommen Songtexte, die kaum einer bestimmten Dekade zuzuordnen sind. Die Tiefe seines Glaubens nimmt nach Schicksalsschlägen zu, … Read more

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08.08.2024 Zusammenleben
Heinrich Pesch

»Einer für alle, alle für einen«

Zunächst schien ein Revival der oft erinnerten „Goldenen Zwanziger“ möglich. Dann haben Pandemie, Ukrainekrieg, Klimakrise und politische Radikalisierung diese Euphorie jäh ausgebremst. Mittlerweile ist unsere Gesellschaft tief in zahlreiche Krisen verstrickt. Spaltungen und der Kampf um den „Rest vom Kuchen“ verschärfen sich. An dieser Stelle lohnt eine Rückbesinnung auf das Programm des Solidarismus.

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01.08.2024 Versöhnung
Nordirland Belfast Konrad

„Ich war 16 Jahre alt, habe gekämpft und habe getötet“

Wussten Sie, dass in Westeuropa noch immer eine Stadt durch Mauern und Zäune getrennt wird? In Belfast, der nordirischen Hauptstadt, erstrecken sich die “Peace Lines” über 21 Kilometer, trennen protestantische und katholische Viertel. Trotz des Karfreitagsabkommens von 1998 schwelt der Konflikt zwischen den Konfessionen bis heute.

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