Zusammenleben  

Wo sind die starken inneren Bilder?

Was fehlt der Kirche? Und was wird ohne sie fehlen?

Mehr als eine halbe Millionen Deutsche vollzogen noch im Jahr 2022 ihren Kirchenaustritt. Sehr wahrscheinlich wird sich der Gang in die zahlenmäßige Minderheit schneller vollziehen als noch in früheren Jahren prognostiziert. Die Kette von verstörenden Gutachten, Studien und Skandalen rund um sexuelle Gewalt reißt nicht ab. Und das Vertrauen in die organisationale Selbstregulierung durch die Deutsche Bischofskonferenz kann sich nicht verfestigen. Es scheint, als ob die katholische Kirche in Deutschland sich selbst kaum mehr bewegen kann. Matthias Sellmann fragt nach dem, was fehlt – und fehlen wird.

Der Synodale Weg mit seinen Versammlungen und seiner klaren und politisch ausgewogenen Reformagenda gibt zwar generell Anlass zur Hoffnung, dass im Katholizismus der deutschen Kirche weiterhin die Intelligenz und die Loyalität vorhanden ist, um das Ruder wirksam herumzureißen. Ob die Bischöfe dies erkennen und als ausgestreckte Hand auch annehmen werden, bleibt ungewiss.

Neben den zahlreichen Reformanliegen wie neuen Zugängen auf das Priesteramt, Frauen in Entscheiderinnenpositionen oder einem respektvolleren Miteinander mit homosexuellen Partnerschaftsformen ist allerdings der Ruf überlaut, dass sich all diese Umbauten von organisierter Kirchlichkeit besser anhören und fühlen würden, wenn sie von attraktiven, besser noch: von attrahierenden, also anziehenden, inneren Bildern getragen würden. Wenn man nur wüsste, so höre ich sehr oft, wohin wir eigentlich vom Sinn her unterwegs sind; und wenn man nur erkennen würde, wie die vielen organisatorischen Umbauten auch zu diesem Sinn hinführen – dann wäre alles größer: unser Mut, unsere Motivation, unsere Risikobereitschaft.

Wo sind die starken inneren Bilder?

Dieser Ruf nach inneren, mobilisierungsstarken Bildern ist nicht abstrakt. Er fragt vierfach in die Tiefe. Erstens nach den Konkretionen: also etwa, wie die Pfarrei und Gemeinde der Zukunft aussehen; das katholische oder evangelische Krankenhaus; die Ausbildungsstätte für alle priesterlichen Dienste; die Firmung; das Pfarrbüro; das Bildungswerk; der Religionsunterricht usw. Und die Antwort auf diese Frage ist nicht die nach den Maßnahmen, sondern die nach dem Sinn. Das ist die zweite Tiefenschicht. Präziser noch: nach der Funktion.

Im Grunde geht es nämlich darum, dass uns die vitale Einsicht abhandengekommen ist, wozu wir uns für diese Sichtbarkeiten von Kirche engagieren. Und hierunter liegt als nächste Schicht: wozu überhaupt Kirche selbst da ist, wenn um sie herum gesellschaftlich immer weniger nach ihr zu verlangen scheint.

Und, letzte Tiefe, wenn wir nicht hinter die theologischen Fortschritte des Zweiten Vatikanischen Konzils zurückgehen, das eindrücklich den Werkzeugcharakter der Kirche für das Reich Gottes und die Gottesfrage selbst markiert hat – dann lautet die eigentliche Frage: Wozu braucht es eigentlich Christ:innen?

Kirche Zukunft Sellmann

Wozu braucht es eigentlich Christ:innen?

Es gibt sie ja nicht, um eine schöne Kirche zu bilden; sondern wenn Kirche schön ist, dann deswegen, weil sie ein Raum christlich geprägter Humanität ist. Wer vermisst was genau, wenn sie nicht mehr da sind? Und wie führt der Weg von der Antwort auf diese letzte Tiefenfrage wieder hoch zu Gemeinde, Priesterseminar, Caritas, Firmung, Lebensform des Priesters und, und, und …

Christsein hat das eigene und das gesellschaftliche Grundvertrauen verloren. Es geht in die Minderheitenposition.

Und wer dies als Ressentiment gegen die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes wendet, der zeigt auf sich selbst. Bevor man über den Unglauben der vorgeblich durchsäkularisierten Massen klagt, sich über den Respektverlust gegenüber der Kirche empört, eine komplette abendländische Gotteskrise vermutet oder gar darauf hinweist, den Christ:innen sei nie eine machtvolle Kirche versprochen worden und die kleinere Herde der Willigen sei allemal evangeliumsgemäßer als der Status quo, wären erst einmal die Hausaufgaben zu erledigen.

Dazu gehört definitiv der Umbau diskriminierender Strukturen. Dazu gehört aber auch die Arbeit an der eigenen Kommunikation. Es ist wie in jeder einvernehmlichen Partnerschaft: Wer sich chronisch missverstanden fühlt, sollte nachprüfen, ob man überhaupt verständlich gesprochen hat.

Null-Linien

Als Autor bekenne ich, dass mir dieser Auszug aus mich prägenden Gegebenheiten schwerfällt. Wenn ich als Professor der Theologie sehe, dass die Anmeldezahlen zum Studium derselben der Null-Linie entgegenstreben wie die der Priesterweihen oder der Sendungen in andere seelsorgliche Berufe; wenn mir hochintelligente junge Leute, vor allem Frauen, gegenübersitzen, die die Kirche nicht mehr als Sprungbrett für ihre ausgeprägte Engagementbereitschaft für eine bessere Gesellschaft verstehen können; wenn ich als 56-Jähriger im Gottesdienst zu den Jüngsten gehöre; und wenn ich um mich herum bemerke, wie das intuitive Wissen um Ostern, Weihnachten oder den Sonntag ohne Verlusterleben versickert – dann zieht mich das runter. Ich bedauere das. Ich sehe etwas gehen, was wichtig ist. Und das treibt mich an, wenigstens jetzt zum Wesentlichen zu kommen. Nicht Schuldzuweisungen an ›die Leute‹ oder ›die Gesellschaft‹ sind jetzt dran, sondern ehrliche kulturelle Arbeit.

Damit war die Ausgangsfrage geboren, und sie ist konstruktiv gemeint: »Was fehlt, wenn die Christ:innen fehlen?« Der Gestus hinter dem Projekt ist derselbe, wie der von Biolog:innen, die artengefährdetes Saatgut in sorgfältig ausgesuchte Speicher einlagern, bevor es ausstirbt. Man schafft damit die Zugänglichkeit zu einer Ressource, die man eventuell noch einmal gut brauchen kann. Ganz ähnlich gelagert ist die Idee eines Kollegen von mir, der Geld dafür sammelt, dass er alte Ordensmänner und -frauen über ihr Leben und ihre spezifische Spiritualität interviewen darf. Diese O-Töne will er aufbereiten und in einem Bild-Tonarchiv veröffentlichen, damit man nicht vergisst, was einmal so viele Leben bereichern konnte.

Mehr als nur museale Reflexe

Korrekt: Das sind museale Reflexe. Schaut man auf die ja immer noch imponierenden Zahlen der kulturellen Präsenz der christlichen Kirchen, mag der Gang in die Konservierung verfrüht erscheinen. In solchen Speicherprojekten erkenne ich trotzdem die Energie, Wertvolles nicht einfach verlorengehen zu lassen, auch wenn es im Moment den meisten nicht vorrangig zu sein scheint. Was fehlt, wenn die Christ:innen fehlen, zielt als Frage darauf, eine Antwort zu erhalten, die auch denen respektabel erscheint, die mit dieser Antwort nichts Existenzielles verbinden.

Wenn man so will, lautet damit der durchaus auch trotzige Unterton: Wenn das mit den Christ:innen hierzulande schon zu Ende gehen wird, dann soll man erstens exakt wissen können, welche kulturelle Ressource da verblasst (auch, um Ausschau nach plausibler scheinenden Äquivalenten zu halten). Und zweitens sollen die, denen dieses Christsein viel bedeutet, Kriterien an die Hand bekommen, um im gegenwärtigen kulturellen Auftritt das Unwichtige vom Wesentlichen unterscheiden zu können.

Wer weiß: Vielleicht kann ein zu sich selbst neu fokussiertes Christsein ein attraktiveres Zeugnis abgeben und in neue nachbarschaftliche Zaungespräche mit mindestens den Wohlwollenden unter den Nicht-Religiösen hineinkommen.

Buchempfehlung

Buch Sellmann Geistliche Klugheit als Lebenskompetenz

Dieser Beitrag ist ein leicht gekürzter Auszug aus Matthias Sellmanns Buch »Geistliche Klugheit als Lebenskompetenz«.

Worin besteht eigentlich der Beitrag von Christinnen und Christen, wenn es um nützliches Lebens- und Gestaltungswissen geht? In Zeiten, in denen die Christen eine Minderheit bilden, wird das immer unklarer. Klar, man kennt die jahr­hundertealte Geschichte des Christentums – aber was ist ihre Relevanz für heute und für morgen?
Das Buch entwickelt eine einfache Kurzformel des christlichen Glaubens unter Berücksichtigung ihrer Relevanz für Gesellschaft und modernes Leben. Das Überraschende dabei: Was Christen an Lebenskunst entdecken, ist genau deswegen christlich, weil es nicht nur für sie gilt. Es ist auch ein Angebot für Menschen ohne explizite Religiosität.

echter Verlag 2023, 416 Seiten, ISBN 978-3-429-05558-5

Fotos: © Stefan Weigand, © knallgrün/photocase.com


Matthias Sellmann

Jahrgang 1966, ist Professor für Pastoraltheologie an der Ruhr-Universität Bochum. Er ist Theologe und Soziologe, Institutsgründer, Wissenschaftsmanager, Vater, Autor, Partner und Redner. Die Frage, die ihn umtreibt, und zwar professionell wie privat: »How love could be?« Was ihm imponiert, ist, wenn einer (oder eine) es schafft, aus sich selbst und seinem Leben eine Gelegenheit zu machen. Das ist es auch, was ihm heilig ist: Leute, die was riskieren, indem sie sich riskieren. Für etwas Wahres. Für etwas Gutes. Für etwas Schönes.

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