Ein Plädoyer für mehr Präsenz
Im gegenwärtigen Moment sein, nicht schon gedanklich ein paar Schritte weiter; genau an dem Ort, an dem ich in diesem Augenblick bin; bei dem Menschen, dem ich gerade gegenübersitze; bei der Sache, an der ich gerade arbeite – warum ist das so schwer? Was würde sich ändern, wenn wir präsenter wären?
Was fällt dir ein, wenn du an Präsenz denkst? Anwesenheit, Geistesgegenwart, Wachheit. Auch Klarheit und Authentizität. Das ruhige, feste Bewusstsein, wer du bist, wozu du hier bist und eine innere Kraft, die ausstrahlt in die Welt.
Wären wir täglich zu 100 Prozent präsent, würden wir unsere Vorhaben stets erledigen, der Chef oder die Chefin wäre zufrieden, die Freunde begeistert. Doch dafür prasselt viel zu viel auf uns ein. Trotzdem ist geistige Wachheit Voraussetzung, wenn wir nicht von äußeren Ereignissen hin- und hergeworfen werden wollen wie eine Barke im Sturm, sondern Kurs halten.
Was steht der Präsenz entgegen?
Es gibt tausende Ablenkungen, die uns locken, von einer Sache zur anderen zu springen und nichts zu Ende zu bringen: Am PC poppt ständig Werbung auf – „pling“. Im Supermarkt vergisst du über der Werbung für fangfrischen Lachs, dass du eigentlich Äpfel kaufen wolltest; beim Gespräch mit der Freundin hörst du mit einem Ohr am Nebentisch zu und verpasst, was sie dir erzählt. Das Handy will dazu verführen, ständig zu kommunizieren.
Kennst du das auch: Oft, wenn ich etwas Wichtiges vorhabe, verspüre ich den Impuls, erstmal das Haus aufzuräumen. Gefährlich! Wenn ich all das, was ich vorher machen will, wirklich zuerst tue, komme ich nicht mehr zu dem, was ich eigentlich wollte.
Ablenkungen halten uns davon ab, zu denken, was uns guttut und zu tun, was uns weiterbringt.
Wenn Präsenz im Leben fehlt, schaffen wir es nicht, der Mensch zu werden, der wir sein wollen. Es gelingt auch nicht, für andere da zu sein, weil wir unser eigenes Leben nicht im Griff haben. Und nur, weil wir dem nachgeben, was auf uns zukommt, anstatt aktiv zu entscheiden, was wir in unser Leben lassen und was nicht, wie wir unsere Zeit verbringen wollen und wie nicht. Doch mangelnde Präsenz hat noch viel gravierendere Folgen.
Wenn wir Gedanken nicht bewusst lenken, sondern zulassen, dass sie immer in die Zukunft oder in die Vergangenheit wandern und an zehn Orten gleichzeitig sind, löst das Stressreaktionen im Körper aus und macht krank. Letztendlich sind wir in der Realität ja doch immer nur in diesem einen Moment, bei dieser einen Aufgabe. Wenn wir die konzentriert lösen, kommen wir kraftvoll vorwärts.
Wie kannst du präsenter werden?
Eine effektive Strategie besteht darin, den frühen Morgen zu nutzen, in eine gute Spur zu kommen: Handy und PC noch ausgeschaltet lassen, Yoga üben, meditieren, beten, eine Runde laufen. Mir hilft, einen Plan zu schreiben, was ich an diesem Tag erledigen will. Am Beginn einer Woche erstelle ich einen Wochenplan. Benachrichtigungstöne von PC und Handy auszuschalten, hilft Ablenkungen zu reduzieren. Wenn ich konzentriert an etwas arbeiten will, schicke ich mein Handy in den Flugmodus. Einkaufen gehe ich mit Liste. Private Telefonate verschiebe ich auf den Nachmittag.
Dem Alltag eine Struktur zu geben, kann helfen: feste Zeiten für Essen und Entspannung einplanen! Der Tag besteht dann nicht ausschließlich aus Arbeit, sondern wir schaffen aktiv Freiräume für das, was wir lieben: Singen, Malen, Radfahren. Solche Aktivitäten lassen uns bei uns selbst sein, im Moment versinken und alles andere vergessen.
Auch durch meine Haltung kann ich präsenter werden. Unser Körper spricht und übermittelt Signale, nicht nur an unsere Umwelt, sondern auch an uns selbst. Darüber schreibt Doro Plutte in ihrem Buch „Wie Haltung unser Leben verändert“. Ein sicherer Stand, gute Atemtechniken für eine feste Stimme und eine aufrechte, entspannte Körperhaltung verändern nicht nur, wie andere auf uns reagieren, sondern auch, wie wir uns fühlen: präsent im eigenen Körper.
Präsenz wofür?
Präsenz kann sich als Wachsamkeit zeigen gegen Manipulation durch andere. In der Politik sind oft die Kräfte am lautesten, die versuchen, mit einfachen Parolen Menschen zu ködern. Indem ich nachfrage, was genau gemeint ist, abwäge, was ich gehört und gelesen habe, und es mit meinen Erfahrungen abgleiche, kann ich mein eigenes Bild dagegensetzen und werde nicht zum Spielball fremder Interessen.
Präsent sein für mich selbst und meine Bedürfnisse; für eine Freundin, die mir dringend etwas erzählen will; für meine Kinder, die von neuen Vorhaben berichten; für Kolleg*innen, mit denen ich an einem Projekt arbeite oder für die Bedürfnisse von Menschen, die hierher geflüchtet sind, ist lohnend.
Hinschauen, reflektieren und sich einsetzen für einen schonenden Umgang mit den Ressourcen dieser Welt ist jetzt dran, nicht später.
„Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheit vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkte wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist, und noch schlimmer: Er wird nie etwas tun, was andere glücklich macht“, so der Philosoph Friedrich Nietzsche. Lassen wir uns wieder öfter auf einem Punkt nieder! Glückliche Momente werden folgen, ganz gewiss.
Veranstaltungstipp

Am 4. und 11. Oktober 2023 ist Jutta Hajek zu Gast in der Akademie für Frauen im Ludwigshafener Heinrich Pesch Haus. „Bei sich ankommen und leichtfüßiger durch den Alltag gehen“ ist der Titel des zweiteiligen Online-Seminars für Frauen. Im ersten Teil am 4. Oktober machen sich die Teilnehmerinnen auf eine Reise zu sich selbst, denn sich selbst zu kennen ist die Voraussetzung für Selbstakzeptanz und Selbstliebe. Im zweiten Teil am 11. Oktober steht das Loslassen wenig hilfreicher Gewohnheiten und der Austausch über positive Rituale im Vordergrund.

Fotos: Daniel Elke