Emotionale Gewalt an Kindern beginnt oft unbewusst
Kinder kleinmachen, sie öffentlich bloßstellen oder absichtlich ignorieren – und das alles unter dem Deckmantel der Erziehung? Für die Pädagogin und Autorin Dr. Anke Elisabeth Ballmann ist klar: Emotionale Gewalt beginnt dort, wo Erwachsene ihre Macht ausspielen. Im Interview deckt die Expertin toxische Strukturen in Bildungsinstitutionen auf, erklärt, warum Wegschauen keine Option ist und weshalb es höchste Zeit für einen Kulturwandel im Umgang mit Kindern ist.
Frau Dr. Ballmann, Sie beschreiben in Ihren Büchern die alltägliche emotionale Gewalt, die Kinder in Familien, Kitas und Schulen erleben. Mal Hand aufs Herz, sind unsere Bildungseinrichtungen ein gewalttätiges System?
Anke Elisabeth Ballmann: Nein und gleichzeitig bieten sie viel Raum für Gewalt – vor allem, wenn die Individualität von Kindern nicht genug gesehen wird.
Gewalt beginnt dort, wo Macht missbraucht wird.
In meinem Buch „Seelenprügel“ habe ich von den ganz jungen Kindern in Krippen und Kitas berichtet. Da habe ich beobachtet, dass Kinder beleidigt und gedemütigt werden. Sie müssen Dinge tun, obwohl sie ganz klar signalisieren, dass sie das nicht wollen. Und da sind wir bei den großen Themen Partizipation und auch Bedürfnisorientierung, was leider beides oft falsch verstanden wird, als reine Wunscherfüllung von Kindern. Aber darum geht es ja nicht.
Woher kommt dieses Verhalten?
Anke Elisabeth Ballmann: Viele Fachkräfte wiederholen unbewusst eigene Gewalterfahrungen. Ohne Reflexion merken sie nicht, wenn sie gewaltvoll handeln. Aussagen wie „Das hat mir auch nicht geschadet!“ zeigen, wie tief solche Muster sitzen. Ich denke, wir haben die Aufgabe, dass wir Menschen sensibilisieren für Gewalt an Kindern, weil – und das wissen wir mittlerweile aus der Forschung – psychische Gewalt die identischen Folgen wie körperliche Gewalt hat. Ich glaube, das wird noch total unterschätzt.
Psychische Gewalt kommt beispielsweise auch in Krankenhäusern oder in Altenheimen vor. Die pflegenden Menschen gehen mit den älteren Menschen genauso um, wie manche Menschen mit Kindern umgehen. Es ist immer ein Machtthema und auch das Nicht-Ernst-Nehmen von Menschen. Und ich glaube, viele Menschen haben es als Kinder selbst nicht erfahren, dass sie ernst genommen und würdevoll behandelt werden.
Emotionale Gewalt ist schwerer greifbar als körperliche. Woran erkennt man sie?
Anke Elisabeth Ballmann: Sie zeigt sich zum Beispiel durch Beschämung, Erpressung oder Ausgrenzung.
Können Sie einige Beispiele nennen?
Anke Elisabeth Ballmann: Wenn ein Kind etwas sagt und die Erwachsenen reagieren mit einem abschätzenden Blick, ist das nonverbale Gewalt. Typische Beispiele für verbale Gewalt sind Situationen, in denen Kinder beschämt werden. Zum Beispiel, wenn Kinder einnässen und dann in der Kita vor der versammelten Gruppe zu hören bekommen: „Du bist doch schon groß. Wenn du noch in die Hose machst, kannst du nicht in die Schule gehen“. Wenn Kindergartenkinder dann als Strafe zu den Krippenkindern müssen, ist das für diese Kinder eine ganz schlimme Degradierung.
Wenn Kinder erpresst werden („Wenn du nicht, dann …“), ist es eine Form von Gewalt, wenn sie herabgewürdigt werden, wenn sie bestraft werden und wenn sie separiert werden, also beispielsweise alleine im Flur sitzen müssen. Es ist für uns Menschen grausam, wenn wir aus einer Gruppe ausgeschlossen werden.
Was ich ganz oft in Kitas sehe, ist Zwang beim Essen. Kinder bekommen zum Beispiel keinen Nachtisch, wenn sie die Hauptspeise nicht aufessen oder bekommen keine zweite Portion, weil sie zu „frech“ sind – das sind alles Seelenprügel, die genauso schädlich sind wie körperliche Gewalt.
Welche Folgen hat das für die Kinder?
Anke Elisabeth Ballmann: Jede Gewalt ist ein Stresserleben und hinterlässt Spuren. Diese vielen kleinen Stiche, die Beschämungen, die Demütigungen, diese Mikrotraumata, können zu zu Bindungs- und Entwicklungstraumatisierungen führen. Später bricht das oft in Krisensituationen auf – zum Beispiel, wenn Erwachsene auf scheinbar normale Ereignisse wie dem Tod der Großmutter mit extremer Verzweiflung und Depressionen reagieren.
Wenn man ganz ehrlich ist: Kinder können einen oft zur Weißglut bringen – da kann man schon mal aus der Haut fahren und dann doch beschämend, grenzverletzend reagieren. Was hilft Fachkräften und Eltern, um nicht übergriffig zu werden?
Anke Elisabeth Ballmann: Wenn ich weiß, wo meine wunden Punkte sind, wenn ich diese reflektiert habe, dann kann ich damit anders umgehen. Bei Pädagoginnen und Pädagogen erwarte ich professionelles Verhalten. Sie brauchen die Fähigkeit, sich zu steuern und können nicht einfach so ihre Emotionen rauslassen. Ja, das ist viel Arbeit an der eigenen Persönlichkeit.
Bei Eltern ist das eine andere Sache: Da geht es, denke ich, um die prinzipielle Stimmung in der Familie. Wenige „Ausrutscher“ in einem wertschätzenden und liebevollen Umfeld schaden nicht. Und wenn ein Fehler passiert, können Eltern Verantwortung übernehmen, sich ehrlich entschuldigen und so die Würde des Kindes wiederherstellen.
Mal angenommen, Sie haben eine politisch verantwortliche Position inne und könnten einige erste Maßnahmen im Bildungsbereich anstoßen, was wären die ersten drei Maßnahmen, um eine würdevolle Bildungslandschaft in die Wege zu leiten?
Anke Elisabeth Ballmann: Eine schöne Frage! (lacht) Als allererstes würden bei mir die Kinderrechte ins Grundgesetz kommen, als zweites würde ich das größte Vermögen, das ich irgendwie auftreiben kann, komplett in die Bildung stecken. Richtig viel Geld für die Bildung! Und ich hoffe, dass wir damit auch Menschen anziehen, die sich für Kinder beruflich engagieren möchten. Dabei hätten bei mir die ersten drei Jahre die allergrößte Bedeutung, weil da die Grundlagen gelegt werden für das ganze Leben.
Mir wäre es als dritte Maßnahme wichtig, dass nur die allerbesten Pädagoginnen und Pädagogen mit den Jüngsten arbeiten würden.
Denn je jünger die Kinder, desto besser müssen die Pädagogen sein.
Ich würde genau das Gegenteil von dem machen, was gerade passiert. Ich würde dafür sorgen, dass es den Menschen, die mit Kindern arbeiten, richtig gut geht, weil wenn es denen gut geht, dann könnten diese einen pädagogischen Traum leben – mein Traum ist eine Pädagogik des Mitgefühls.
Das ist eine tolle Vorstellung – Frau Ballmann, wann kann ich Sie wählen?
Interview: Cathrin Rieger
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