Zusammenleben  

Was für ein Jahr?

Menschen aus der Redaktion von Sinn und Gesellschaft blicken auf das Jahr zurück

Manche sagen, sie hätten ihr Zeitgefühl für dieses Jahr verloren. Anderen fällt es schwer, überhaupt etwas zu finden, was in diesem Jahr schön war. Und dann gibt es wieder Menschen, denen gleich vieles eine Freude war. Auch wir in der Redaktion von Sinn und Gesellschaft haben auf das Jahr 2021 geblickt und Momente und Erlebnisse festgehalten.

Tobias Zimmermann: Es ist wie es ist

Wieder ein Jahreswechsel. Wieder hoffen auf die baldige Rückkehr zur Normalität? Das Jahre 2021 brachte, was eigentlich schon am Jahreswechsel absehbar gewesen war: Die Pandemie hatte sich nicht vom Acker gemacht. Es war kein universelles Heilmittel gefunden worden, weder gegen Corona noch gegen Uneinsichtigkeit oder die aggressive Unzufriedenheit mancher Mitmenschen. Wieder wurden so viele Menschen vor der Zeit aus dem Leben gerissen; Wieder kämpften so viele am Limit um ihre eigene Existenz oder das Leben anderer. Endlich wieder Normalität?

Was aber, wenn unsere abgesichert-berechenbare Normalität vor Corona die Ausnahme gewesen wäre? Eigentlich legen das der Blick in die Geschichte, aber auch der Blick über den Tellerrand Europas hinaus nahe. Könnte es sein, dass mein Wunsch nach Normalität gar kein Wunsch, sondern eine Versuchung ist? Dann wäre Silvester 2021 der Moment, mutige Schritte aus der Illusion zu wagen, Zeit sich zu sortieren: Was hilft mir, das Leben, so wie es eben ist, nicht nur zu ertragen, sondern zu genießen?

Mir fällt sofort ein kleines Ritual ein. Es hat mich lange durch die Krise getragen. Und es drohte prompt einzuschlafen, als das Leben wieder „normal“ wurde: Jeden Tag beendete ich mit einem viertelstündigen Telefonat mit zwei Freunden. Wir erzählten uns, was wir erlebt hatten. Wir diskutierten, was uns in Politik und Gesellschaft umtrieb. Wir waren nie einer Meinung! Und darüber konnten wir am Ende viel lachen! Für mich war es mein persönliches Gegengift gegen Resignation, Erschöpfung und die eigene Rechthaberei. Denn es war eine Vitaminspritze, um mich in die Lebenssituationen anderer Menschen besser einfühlen zu können, zu verstehen, was sie bewegt, Geduld zu haben mit anderen Meinungen, selbst da, wo ich sie immer noch nicht teilte. Danke Georg und Johann! Dringende Empfehlung es nachzumachen, wenn Sie wollen.

Tobias Zimmermann SJ

Tobias Zimmermann SJ

ist Priester, Pädagoge und Jesuit. Als Autor und als Mitbegründer des Zentrums für Ignatianische Pädagogik (ZIP), das er seit Oktober 2019 leitet, arbeitet Tobias Zimmermann an Projekten der Entwicklung der katholischen Schulbildung und Spiritualität, in der Schulentwicklung, im Coaching für Leitungskräfte und in der Fortbildung von Schulleitungen und Pädagogen. Seit Oktober 2019 ist er Direktor des Heinrich Pesch Hauses und wirkt mit an der Weiterentwicklung der Akademie im Bereich Online-Bildung, neue Schwerpunktthemen sowie an der Entwicklung der Heinrich Pesch Siedlung, einem Modellprojekt für soziale und ökologische Stadtentwicklung.

Foto: Stefan Weigand


Ulrike Gentner: Auf dem Weg ins Büro

Es sind diese besonderen Momente, in denen plötzlich etwas aufscheint.

Mitte Dezember war ich morgens auf dem Weg ins Büro. Ich traf ein Nachbarmädchen, das mit seiner Mutter in Richtung Kindergarten unterwegs war. Wir plauderten über schwer zu öffnende Türen, bis das Mädchen von ihrem schweren Rucksack erzählte: sie hatte zwei selbstgemachte Marmeladengläser für ihre Erzieherinnen eingepackt. Während die Mutter mit ihrem Fahrrad samt Anhänger beschäftigt war, kam die Kleine auf mich zu und teilte mir ihr Geheimnis mit: was sie für Mama und Papa zu Weihnachten gebastelt hatte.

In diesem Moment lag ein eigener Zauber: das kindlich Geheimnisvolle, das Teilhabenlassen, an dem, was bedeutsam ist, die spontane Nähe. Für Kinder ist das natürlich, doch in Pandemiezeiten werden sie angehalten, Abstand zu halten. In jener Spannung an diesem Morgen von Nähe bzw. Abstandhalten und etwas wichtiges Mitteilen entstand eine besondere Begegnung.

Ulrike Gentner

Ulrike Gentner

ist Theologin und Pädagogin mit jahrzehntelanger Erfahrung in der Erwachsenenbildung. Als stellv. Direktorin des Heinrich Pesch Hauses und Direktorin Bildung prägt sie die Katholische Akademie Rhein-Neckar. Zugleich leitet sie das Zentrum für Ignatianische Pädagogik, das Schulen im deutschsprachigen Raum berät und Leitungs- und Fachkräfte qualifiziert. Sie ist Trainerin für Leadership und Organisationsentwicklung, Referentin für ignatianische Spiritualität und Pädagogik sowie Autorin von Publikationen zu Politischer Bildung, Didaktik und Spiritualität.
heinrich-pesch-haus.de


Anette Konrad: Wellenbrecher

Wellenbrecher ist das Wort des Jahres 2021. Für mich müsste es eigentlich das Wort Hoffnung sein. Denn Hoffnung auf ein Ende der Pandemie, Hoffnung auf ein Ende all der Einschränkungen, mit denen wir bald zwei Jahre leben – das ist es, war mir gerade jetzt im Advent von allen Seiten entgegenströmt, was alle Gespräche, Zeitungsartikel und Fernsehsendungen dominiert. Vielleicht hat mich auch deshalb ein Werbespot eines Discounters, der im November viral ging, so berührt: „Was wünschst du dir eigentlich zu Weihnachten?“, fragt da ein Jugendlicher seine Mutter und die antwortet: „Ich wünsche dir deine Jugend zurück“. Ein Wunsch, auf dessen Erfüllung auch ich hoffe, für meine Kinder und alle jungen Menschen, denn sie sind es, die von der Pandemie und ihren Auswirkungen besonders betroffen sind.

Anette Konrad

Ohne Block und Stift geht sie nie aus dem Haus. Denn die Journalistin könnte ja unterwegs auf ein spannendes Thema stoßen. Die promovierte Historikerin und Slavistin schreibt gerne über geschichtliche Themen, porträtiert faszinierende Menschen, verfasst aber auch Unternehmensporträts und Reisereportagen. Dabei verbindet sie Berufliches mit ihrer großen Leidenschaft: dem Reisen. Seit sie einige Monate in Moskau studiert hat, zieht es sie immer wieder nach Osteuropa. Im Heinrich Pesch Haus verantwortet sie die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.


Jana Sand: In der Schlange am Impfzentrum

Da gab es im Impfzentrum diesen einen Moment, der mich zunächst unglaublich wütend und dann dankbar und staunend zurück gelassen hat: In der Schlange wartend bekomme ich mit wie ein Mitarbeiter des Impfzentrums, vielleicht mit türkischer Herkunft, Desinfektionsmittel in den Händen der Wartenden verteilt. Eine Frau fährt den Mitarbeitenden daraufhin an und sagt, dass sie sich von jemandem wie ihm das Mittel nicht geben lässt. Der Mann blieb sehr freundlich und erklärte mit ruhiger Stimme, dass er sie dann nicht rein lassen könne. Die Situation wurde gelöst, indem sich die Frau Desinfektion von einem anderen Wartenden geben lies.

Ich war fassungslos und hatte das Bedürfnis dem Mann für seine Arbeit zu danken und mich quasi für das rassistische Verhalten der Frau zu entschuldigen. Die Antwort des Mannes wird mir für immer in Erinnerung bleiben: „Wissen Sie, diese Frau hat einfach noch nicht verstanden welches Glück sie hat, Entscheidungen treffen zu dürfen.“

Jana Sand

Jana Sand

Themen, die Familien und Fachkräfte wirklich bewegen zu erkennen und dann passgenaue Angebote für sie zu schnüren, dafür pocht das Herz der Diplom-Pädagogin. Die Leiterin der Familienbildung und Referentin im Zentrum für Ignatianische Pädagogik hat sowohl den direkten Kontakt zu Familien und organisiert Fachveranstaltungen und Qualifizierungen für verschiedenste Zielgruppen.
familienbildung-ludwigshafen.de


Kai Stenull: Einschulungstag

An einen Tag in diesem Jahr denke ich besonders gerne zurück. Es ist der Tag, an dem mein Sohn Jakob eingeschult wurde. Eigentlich wussten wir ja schon von seinem älteren Bruder, wie so eine Einschulung abläuft. Aber das war ja noch damals vor Corona gewesen. Jetzt war alles anders.

Lange war unklar, ob es eine klassische Einschulung geben könnte oder wie eine Alternative aussehen würde. Am Ende fanden die Einschulungen klassenweise getrennt, nacheinander statt. Bei Sonnenschein, draußen auf dem Schulhof, mit einem Hygienekonzept, Registrierung und Maskenpflicht. Auf dem Boden waren mit Kreide große Blumenblüten gemalt, an denen sich jeweils eine Familie mit Abstand zu den anderen stellen sollte. Nach der Begrüßung durch die Direktorin wurden die Erstklässler*innen nach vorne gerufen, wo sie im Halbkreis sitzend – alle ziemlich aufgeregt – zum ersten Mal ihre Mitschüler*innen und ihre Klassenlehrerin sahen. Und dann ging es auch noch kurz zusammen in das Klassenzimmer. Die Lehrerinnen und Lehrer hatten mit viel Engagement diesen ersten Schultag liebevoll gestaltet. Danach war ich mir sicher: Trotz Corona würden mein Sohn und seine Klassenkamerad*innen gut in ihr Abenteuer „Erstes Schuljahr“ starten.

Kai Stenull

Kai Stenull

ist stellvertretender Direktor Bildung des Heinrich Pesch Hauses. Als Politikwissenschaftler und Osteuropa-Historiker arbeitet er seit mehr als 20 Jahren zu theoretischen und praktischen Fragen der Demokratie und politischen Bildung.


Stefan Weigand: Fern-Nähe

Ich blicke auf ein Jahr voller Ungewissenheit – und bestimmt bin ich damit nicht allein. Im Januar sah ich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meiner Agentur, die ich führe, nur auf dem Bildschirm. Wir hätten nicht ahnen können, dass das noch Monate so weitergehen wird. Der unmittelbare Kontakt blieb total reduziert. Nicht nur im Büro, sondern auch mit Freunden passierte das. Man traf sich nicht mehr, allenfalls telefonierte man mal. Was tun?

Ich begann damit, Briefe zu schreiben. Manchmal nur ein paar Zeilen, manchmal auch zwei-drei Seiten. Hin und wieder packte ich auch eine gute Flasche Wein in die Post, in der Gewissheit: Auch aus der Ferne können wir uns zuprosten. Die Sendungen gingen an Menschen, die ich mag, die Freunde sind und meine Wege begleiten. Nun könnte man meinen, Briefe sind komplett aus der Zeit gefallen. Aber das Gegenteil war der Fall. Auf einmal kamen wieder Briefe zurück. Jemand gestaltete eine Fotocollage auf einer Schallplattenbox, ein anderer Freund sandte mir ein Brettspiel. Die Briefe durchbrachen die Ungewissheit dieses Jahres. Sie zeigten mir: Es gibt immer Menschen, die mit einem unterwegs sind. Egal wie weit sie weg sind, sie sind immer ganz nah.

Stefan Weigand

Stefan Weigand

Auf die einsame Insel würde er seine Familie, ein schönes Buch und seinen Plattenspieler mitnehmen. Nach dem Theologie- und Philosophie- Studium in Würzburg und Indien war er zunächst Sachbuchlektor in einem großen deutschen Verlag. Seit mehreren Jahren führt er eine Agentur für Buch- und Webgestaltung und wird als Konzeptionsberater bei Buchprojekten gebucht. Er ist Vater von vier Kindern. Als Autor widmet er sich einfachen Dingen, der Rolle als Vater, Jazz und Indie-Musik und Kulturthemen. Abseits der beruflichen Wege geht er mit seiner Familie zum Geocaching und an ruhigen Abenden widmet er sich seinem Faible für Literatur und Schallplatten.
www.stefan-weigand.com

Jahresrückblick 2021
Die Altstadt im Spiegel – kleine Fähnchen inklusive

Fotos: © markusspiske/photocase.com, © hoffi99/photocase.com

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28.03.2024 Versöhnung
Tobias Zimmermann

»Ihr werdet mich nicht los!«

Es ist wirklich eine „verbeulte“ Kirche, wie Papst Franziskus sagt, mit der wir unterwegs sind. Aber diese Kirche sind nicht „die anderen“. Ich bin Teil davon, obwohl ich mich nicht erst seit gestern oft nicht daheim fühle oder dem Wunsch aktiv widerstehen muss, mich zu distanzieren. Aber sie wird mich nicht los, und ich sie nicht! – Ein ganz persönlicher Kar- und Ostertext von Tobias Zimmermann SJ

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19.03.2024 Versöhnung
Nürnberg St. Clara

Was sagt das Magnifikat über Maria?

Die Evangelien berichten über Maria auf unterschiedliche Weise, und das Magnifikat, der Lobgesang Marias, ist eines der biblischen Bilder, das Maria prägnant kennzeichnet. ­Allerdings hat Maria wohl kaum das Magnifikat gedichtet. Der Jesuit Klaus Vechtel wirft einen näheren Blick auf eines der bekanntesten Gebete der Menschheit.

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12.03.2024 Zusammenleben

»Es geht um jeden Menschen«

Jedes Jahr verlassen in Deutschland laut einer Studie des Bildungsforschers Klaus Klemm rund 50.000 junge Menschen die Schule ohne Berufsreifeabschluss. Keinen Abschluss zu haben bedeutet gleichzeitig eine ungewisse und oft schwierige berufliche und persönliche Zukunft. Hier will das Ludwigshafener Heinrich Pesch Haus gemeinsam mit der Stiftung Jugend.Hafen mit dem Projekt „LU can learn“ helfen.

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