Fünf Jahre nach dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise ist Lesbos Symbol des Scheiterns und der Hoffnung zugleich
Vor über fünf Jahren, am 16. April 2016, besuchte Papst Franziskus gemeinsam mit dem ökumenischen Patriarchen Bartholomaios die griechische Insel Lesbos. Im völlig überfüllten Flüchtlingslager Moria forderten die beiden Kirchoberhäupter entschiedenes Handeln und internationale Solidarität für die „größte humanitäre Katastrophe seit dem 2. Weltkrieg“. Anfang Dezember reist der Papst nun erneut nach Lesbos – was hat sich seitdem verändert, was erwartet ihn diesmal am Rand Europas?
Vor kurzem ist eine Gruppe junger Jesuiten und Wissenschaftler*innen dorthin gereist, sie finden: Lesbos ist ein Symbol, das die tiefe Spaltung Europas zeigt – aber auch Hoffnung machen kann.
Auf den ersten Blick eine Ferienidylle
Als die Mitglieder der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurth und der Hochschule für Philosophie in München im September 2021 auf Lesbos landen, zeigt sich ihnen eine spätsommerliche Insel, die sich gerade von einem langen Corona-Lockdown zu erholen scheint. Ein paar wenige Touristen genießen die historische Altstadt von Mytilene, in der etwa die Hälfte der rund 80.000 Einwohner der Insel leben. Im Hafenbecken dümpeln die Schiffe der griechischen Küstenwache (und eines ihrer italienischen Kollegen), nur vereinzelt sieht man Geflüchtete in der Stadt und am Horizont ist die nahe Küstenlinie der Türkei zu erkennen.
Doch bald schon merken die jungen Gäste, dass ein tiefer Riss durch die Insel geht: Die dunkelhäutigen unter ihnen werden für Migranten gehalten und misstrauisch gemustert, die anderen öfter als „Flüchtlingshelfer“ verdächtigt und angepöbelt. Immer wieder hört man: „Geht nicht in dieses Restaurant, dort treffen sich die anderen“. Fein säuberlich getrennt sitzen die verschiedenen Gruppierungen der Stadt in unterschiedlichen Kneipen und beäugen sich feindselig: die zahlreichen freiwilligen Helfer*innen verschiedener Hilfsorganisationen (manche von hier, viele von auswärts), die Soldaten der Küstenwache, die Einheimischen, die sich gern gegenseitig als „Sozialisten“ bzw. „Faschisten“ titulieren – es wird viel getrunken, aber kaum noch miteinander geredet.
Symbole stehen für Werte – aber für welche?
Und wo die Worte fehlen, beginnt der Kampf um Symbole: Die Stadt ist übersät mit Wandzeichnungen und Graffitis, die Menschen verwenden die gleichen Bilder, aber ringen um die Deutungshoheit: Das christliche Kreuz – ist es ein Zeichen grenzenloser Liebe oder markiert es die Grenze gegenüber den Flüchtlingsströmen aus dem Nahen Osten? Das europäische Sternenbanner – steht es für Rechtsstaatlichkeit und Solidarität oder ist es bloß noch ein Feigenblatt, das kaum verdeckt, wie hier die Rechte der Geflüchteten verletzt werden? „Welcome to Europe“ steht auf einer Mauer – und gleich dahinter „Friedhof der Menschenrechte“.
Jede Nacht laufen die Boote der europäischen Frontex-Küstenwache aus, es häufen sich die Berichte von illegalen „Push-Backs“, dabei werden nicht nur Flüchtlingsboote auf hoher See gestoppt und deren Motor zerstört, sondern immer wieder werden auch Geflüchtete, die bereits europäischen Boden betreten haben, zurück ins Meer getrieben. Keiner kennt die genauen Zahlen, aber die Vereinten Nationen schätzen, dass seit 2014 wohl mehr als 22.700 Menschen auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrunken sind.
Lesbos als Spiegel für Europa
„Lesbos zeigt uns ein Europa, das seine Werte verrät oder – schlimmer noch – diese Werte zwar feierlich proklamiert, aber nie ernst gemeint hat“,warnt der Wissenschaftler Dr. Thomas Steinforth – und macht gleichzeitig deutlich:
Zugleich kann es Anlass und Anstoß sein, Europa beim Wort zu nehmen, ernst zu machen mit den proklamierten Werten und zu zeigen: Europa kann auch anders!
#LessonsFromLesvos
Lesbos ist zum Symbol geworden für den tiefen Riss der durch unsere Gesellschaft geht, der aber kaum noch auffällt, da es sich jeder in seiner gesellschaftlichen Nische bequem gemacht hat. Man sitzt in seiner „Echokammer“ unter Gleichgesinnten, sucht alle Schuld bei den jeweils anderen und merkt nicht, dass die zunehmenden Probleme – seien es nun der Anstieg der Flüchtlingszahlen, der Corona-Erkrankten oder des Meeresspiegels – uns alle zu Verlierern machen.
Der Papst als Mahner, das Offensichtliche nicht zu übersehen?
Als Papst Franziskus vor fünf Jahren nach Moria kam, waren die Probleme noch offensichtlicher. In dem für 2.800 Menschen errichteten Lager lebten zeitweise über 20.000 Menschen. Nachdem es im September 2020 abbrannte, ist das kleinere Nachfolgelager Kara Tepe deutlich weniger auffällig. Der starke Wind peitscht häufig die Gischt in die Zelte, im Winter wird es eiskalt. Kaum eine Hilfsorganisation hat noch Zutritt, die Menschen dort dürfen nur einmal pro Woche für drei Stunden das Lager verlassen, der Fußmarsch in die Stadt dauert einfach 45 Minuten. Das Warten zermürbt die Menschen. Hier wächst eine Generation heran, die ihre Kindheit in Lagern verbracht hat und deren Traumen nicht enden, wenn sie das vermeintlich „sichere Europa“ erreicht haben.
Gerade auf Lesbos wird offensichtlich, wie sehr die Geflüchteten zum Spielball der Weltpolitik geworden sind. Alle hoffen auf eine „europäische Lösung“, doch die kann – wenn man die europäischen Werte ernst nimmt – nur darin bestehen, dass man die wahren Schleuser – die Erdogans, Lukaschenkos und Putins, die so manche Scheinheiligkeit der europäischen Demokratien genüsslich offenlegen – endlich zu Verlierern der von ihnen geschürten Krise macht. Auch deren Helfershelfer – die daran beteiligten Fluglinien, Banken und so mancher Großkonzern – dürfen nicht länger von ihren Diktatoren-Geschäften und Schleuserdiensten profitieren. Und vor allem gilt:
Die weltweiten Flüchtlingsströme werden in den nächsten Jahrzehnten noch deutlich anschwellen, wenn es keine weltweite Solidarität gibt im Kampf gegen Armut und Klimawandel.
Papstbesuch als starkes Zeichen
So kann der zweite Besuch von Papst Franziskus auf der Insel Lesbos ein starkes Zeichen gegen das Wegschauen und Beschönigen unserer Zeit sein: Das Lager Moria ist abgebrannt, das neue Lager ist optisch gefälliger – aber der Riss durch die Gesellschaft ist tiefer geworden, und die Menschen sprachloser. Lesbos ist kein „Sonderfall“ mehr, es ist ein Spiegelbild Europas und es liegt an uns, wie es weiter geht, ob wir beispielsweise lieber miteinander oder übereinander reden. „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“ – das gilt für unsere Gesellschaft als Ganzes, aber auch für jeden einzelnen von uns. Und je nachdem, wie wir unser Leben leben, kann uns diese Warnung Angst oder Hoffnung machen.