Ist da jemand, wenn ich bete?
„Von der Not und dem Segen des Gebetes“ – so lautet der Titel eines lesenswerten Büchleins von Karl Rahner. Die Not kennt man, den Segen weniger. Schon die biblischen Beter hatten ihre Not mit dem Gebet und mit dem lieben Gott gleich dazu (man denke nur an das Buch Hiob). Wie viele herzzerreißende zum Himmel geschickte Gebete blieben und bleiben unerhört! Schaut man auf die vollmundigen Verheißungen Jesu: „Was ihr vom Vater erbitten werdet, das wird er euch in meinem Namen geben“ (Joh 16,23 f.), so kann man in der Tat nur murmeln: Unerhört! So steht man da und fröstelt.
Rührt sich etwas im Grunde der Welt, wenn ich bete? Ist da jemand? Kommt da etwas an von meinem Gebet bei Ihm, dem Heiligen, Unnennbaren, der über jeglichem Namen thront? Oder ist da nur eine schreckliche Stille, ein Schweigen, groß und furchtbar, in das hinein ich meine Gebete fallen lasse?
Die Schwierigkeiten, die das Bittgebet uns bereitet, liegen nicht zuletzt in seinem penetranten Anthropomorphismus begründet. Es wirkt nicht selten peinlich naiv. „Mach, dass die Mama gesund wird!“ „Mach, dass der Krieg in Syrien aufhört!“ „Mach, dass ich eine ‚Zwei‘ in Mathe schreibe!“ „Mach, dass Claudia zu mir zurückkommt!“
Wo spricht Gott uns an?
Und doch gilt auch: Wir Menschen sind personale Wesen. Ein Gott, der uns in unserem Persönlichsten, Innersten nicht entgegenkäme, wäre uninteressant. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass das biblische Beten (etwa das der Psalmen) auf so penetrante Weise personal strukturiert ist. Schon das Vaterunser, dieser in seinen sieben maßvoll-rigorosen Bitten einzigartige Text, spricht den Adressaten als „Vater“ an. Wenn diese Anrede irgendeinen Sinn haben soll, muss ihr Adressat uns, die wir personale Wesen sind, personal antworten, jedenfalls so, dass wir es als Antwort erfahren oder deuten können. So öffnet sich der Horizont der Fragestellung. Er dreht sich gewissermaßen um:
Wo spricht Gott uns an? Wo erleben wir Ihn, den Urgrund der Welt, als uns ansprechend?
Ob das vielleicht damals in jenem unaussprechlichen Trost geschah, der inmitten aller Verzweiflung leise in mir aufstieg? Oder in jener Weite damals am Meer, als mein Name in mir aufklang und ich mich aus einer Ferne angeschaut wusste, die mir liebevoll zu verstehen gab: „Nimm dich ernst!“? Es ist unbezweifelbar, dass Menschen Resonanzerfahrungen machen. Dass sie mitten in der Welt eine Wirklichkeit erleben, die größer ist als die Welt. Und dass es zu einem wechselseitigen Resonanzgeschehen kommen kann, zu einer Art „Gespräch“.
Der Sinn unseres Gebetes
Anhand solcher Überlegungen wird deutlich: Der Sinn unseres Gebetes (auch des Bittgebetes) steht und fällt mit unserer Art und Weise, die Welt wahrzunehmen. „Ist die moderne ‚Gott‘-Blindheit nicht vielleicht auch und vor allem Folge oder Ausdruck einer bestimmten Form von ‚Wirklichkeits‘-Blindheit?“ , fragt der große Dichter und Bibelkundler Fridolin Stier (1902–1981). Wenn Gott nicht nur ein verblasenes Gedankenkonstrukt ist, sondern lebendige Wirklichkeit, dann muss man Ihn, den Heiligen, sinnlich erfahren können.
Sinnliche Erfahrung ist aber immer eine bestimmte Form von Welt- und Selbsterfahrung. Könnte jener Urgrund, der aller Wirklichkeit vorausliegt, dann aber nicht womöglich gerade deshalb personal ansprechbar und erfahrbar sein, weil er alles, was ist, liebend umfängt und durchdringt (vgl. Apg 17,28)? Weil er allem, was ist, inniglicher ist als dieses sich selbst?
In diesem Sinn wäre das biblische Wort „Gott“ zu verstehen als die machtvolle Anwesenheit jenes „ICH BIN (DA)“, wie sie nicht zuletzt im Umgang Jesu mit den Menschen erfahrbar wurde. Gläubige Menschen sehen die Welt in Gott. Eben dadurch verändert sich die Welt. Es scheinen Möglichkeiten auf, von denen man ohne das Gebet nichts wüsste – weshalb das biblische Beten, das sei hier unbedingt festgehalten, wesentlich mehr ist als nur Bittgebet.
Beten zu Gott im Sinne Jesu ist Lobpreis, Dank, Klage, Bitte, Hadern, Flehen, Schreien, Nachsinnen, Betrachten, Bedenken, Erwägen, Mit-sich-zu-Rate-Gehen, Ringen und Träumen vor jenem Gott, den Jesus als den Größeren seiner selbst (den „Vater“) erfuhr, in welchem er sich geborgen und von welchem er sich herausgefordert wusste.
Wem es gegeben ist, die Welt solcherart im Licht der Möglichkeiten Gottes zu sehen, dessen Gebet ist wie das Gebet Jesu – erhört. Und das wäre das Unerhörteste, was einem Menschen passieren kann.
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