Warum Gott uns näher ist als wir glauben
Andreas Heek skizziert im zweiten Teil von „Machterhalt statt Seelsorge“, wieso eine männliche Kirche zerstörerisches Potenzial hat und wie er sich die Nähe der Kirche zu den Menschen vorstellt.
Die kulturelle Entwicklung von Männlichkeit ist eine Geschichte der Hegemonie, der Herrschaft gegenüber der Frau und dem Willen, sie und alle, die schwächer sind, zu unterwerfen. Zugegeben, die Errungenschaften der Aufklärung, die zunehmende Dekonstruktion von „Männerphantasien“ und die Versuche von Männern, sich von diesen Formen sozial ererbter Männlichkeiten zu befreien, sind beträchtlich.
Dennoch: Die spätestens in der Antike entstandene Hegemonie des Männlichen ist bis heute wirksam. Dieser sicher aus seiner körperlichen Überlegenheit gegenüber der Frau entstandene Modus der Herrschaft und die auch dadurch entstandene Art und Weise, sexuell der „aktive“ Teil zu sein, führte schließlich dazu, dass Männer dazu neigten, alle ihre Beziehungen nach dem Muster der Unterwerfung zu gestalten, wenn es in ihrer Macht steht.
Die Kirche als eine hegemoniale Männer-Vereinigung ist auf diesem Hintergrund betrachtet eine besonders riskante soziale Konstruktion. Die Männer-Kirche kennt qua Struktur nicht das Korrektiv des Weiblichen, das viele andere Organisationen als hilfreich beschreiben, damit Macht eingehegt, kontrolliert und human ausgeübt wird. Deshalb muss sich eine solche Organisation besonders der Geschichte männlicher Unterwerfung bewusst sein. Nur dann kann sie davon ablassen, Menschen manipulieren und beherrschen zu wollen. Das zerstörerische Potential mann-männlicher Manipulationsmacht zeigt sich nicht nur bei sexualisierter Gewalt gegen Schwächere und Abhängige, sondern auch in bestimmten Formen geistlicher Begleitung und Seelsorge.
Angemessene Nähe
Nähe ist eine Bedingung für Wachstum, für jeden einzelnen Menschen, aber auch und besonders in Seelsorge, Lehre und Zusammenleben. In schlicht allen menschlichen Bezügen. In asymmetrischen Beziehungen ist gerade für Männer die Herausforderung eine besondere, Nähe nicht für Herrschaftszwecke auszunutzen. Für die Seelsorge kann dies Folgendes bedeuten: Stellen Sie sich eine Berghütte vor. Sie liegt optimal an einem Weg, den viele Menschen nehmen. Sie liegt etwas geschützt in einer kleinen Senke, direkt im Schutz eines Berges. Hier kehren Menschen ein, die eine Rast benötigen, Stärkung durch Speis und Trank, möglicherweise ein Bett und ein Kopfkissen zum Übernachten. Die Sorge dafür, dass es warm ist im Haus, wenn es draußen kalt wird, der Herd nicht ausgeht, um ein wärmendes Essen zu bereiten, trägt der Hüttenwirt bzw. Hüttenwirtin. Wenn er/sie Zeit hat, setzt er/sie sich kurz zu ihren Gästen, fragt nach dem Woher und Wohin. Niemand, der in dieser Hütte Verantwortung trägt, käme darauf, die Gäste an die Berghütte zu binden. Der Grundmodus der Gäste ist das Gehen, das Unterwegssein. Alles Nötige hat die Wanderin, der Wanderer selbst dabei. Wer etwas braucht, meldet sich. Und bekommt bestmögliche Unterstützung für den weiteren Weg.
Herbert Haslinger hat seine Vision von der Pastoral der Kirche in dem schlichten Bild der Berghütte ausgedrückt. Kirche als Berghütte ist nicht so sehr eine pastorale Methode, sondern vielmehr eine Haltung. Das unaufgeregte Vorbeiziehen lassen von Menschen auf dem Weg und ihnen dabei Obhut und Wärme anzubieten, ist eine Frage der Gastfreundschaft, die das schlichte Gegenteil von Herrschaft ist. Eine solche pastorale Haltung „vermittelt“ keinen Glauben.
Nähe heißt einfach: da sein, respektvoll nah, aber nicht aufdringlich und impertinent, nicht zugreifen wollend auf die ganze Person des Gegenübers.
„Takt, Kontakt, Distanz“, so hat diese Haltung einst der Pastoralpsychologe Hermann Stenger einmal in aller Kürze zusammengefasst.
Der theologische Preis von Nähe
Der Preis für eine solche respektvolle Nähe ist hoch. Diese Nähe rüttelt an den dicken Säulen des Glaubensgebäudes, das wohlgeordnet und mit gewissem Stolz dasteht. Der uneindeutigen Identität des Menschen, seiner Unfertigkeit, Vorläufigkeit und Zerbrechlichkeit wird gewöhnlich dieses stolze Gebäude gezeigt. Auf der Habenseite dieser Residenz steht ihre lange Existenz, wiewohl von dessen Bauzeit, den ständigen Umbauarbeiten, Renovierungen, Übermalungen und Kitten von Rissen in der Regel wenig erzählt wird. Dieser Palast des Glaubens will dem Menschen zeigen, dass seine Ungesichertheit darin aufgehoben sei, wenn er nur glaubte, es böte Sicherheit.
Aus der Erfahrung in der Neuzeit ist jedoch gewiss: Der aufgeklärte Mensch fühlt sich nicht gänzlich getröstet, kann sich nicht laben an den erhabenen Glaubensaussagen und nicht einfachhin Tröstung finden in den Sakramenten. So hält er sich diskret fern, weil er spürt, dass die Antworten, die dort auf die existenziellen Fragen gegeben werden, nicht wärmen und nicht nähren. Sie wirken wie leere Versprechungen, weil sie ahnen, sie versprechen zu viel.
Die Menschen – christgläubig oder nicht – sind unterwegs und wissen nicht um das Ziel ihres Weges.
Um erfüllt leben zu können, brauchen Menschen deshalb etwas Wichtigeres als ein Ziel, nämlich Nähe, Wärme, Berührung, Akzeptanz oder kurz: Liebe. Doch an all dem mangelt es oftmals eklatant in ihrem Leben. Deshalb muss Anteilnahme an den Wechselfällen des Lebens das Paradigma kirchlicher Pastoral sein.
Wie gesagt, der Preis dafür ist theologisch nicht gering. So wie nämlich die Fluidität des Lebens Flexibilität und Anpassungsvermögen beim Menschen braucht, so gilt dies auch für die Erfahrung der göttlichen Wirklichkeit. So wie ein Fluss sich der Topographie der Landschaft anpasst, so schmiegt sich Gott der Seelenlandschaft des Menschen an. Gott ist der Fluss, der sich durch die menschliche Topographie seinen Weg bahnt, den Menschen erfüllt, entfalten lässt. Vermeintlich ziellos fließt dieser Fluss dahin, immerzu bergab.
Der Fluss, ein riskantes Bild für das Verhältnis Gott-Mensch?
Nähme man es als Arbeitshypothese an, bis besseres Wissen vorhanden wäre, müsste sich Theologie radikal verabschieden von letztgültigen Aussagen über eine „Identität“ Gottes. Diese unmittelbare Nähe zwischen
Gott und Mensch, die Anpassungsfähigkeit Gottes an die Topographie des Menschen ist eine Provokation für Traditionalisten, aber eine Möglichkeit für alle.
Die so beschriebene Nähe zwischen Mensch und Gott ist so unmittelbar, dass sie fast nicht wahrnehmbar ist. Und doch sind Fluss und Landschaft nicht identisch, ja sogar signifikant unterschiedlich. Aber diese Nähe kann als Segen erfahren werden. Sie wehrt jegliche Form der Bevormundung und Paternalismus ab. Sie schafft Raum für den freien Geist des Menschen. Sie ist ehrlich mit der Unbeantwortbarkeit der „letzten“ Fragen. Und doch vermag sie Trost zu spenden für die wunde, heimatlose Existenz des Menschen, kann seinen Fragen und Sorgen eine Richtung geben, die allein in ihr selbst liegt: in ihrer Unmittelbarkeit.
Zum ersten Teil des Essays geht es hier:
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