Fastenzeitimpuls Verlorenes Wissen

Verlorenes Wissen

Ein Impuls von Klaus Mertes zur Fastenzeit (4)

Ich saß an einem Werktag nachmittags alleine in einer Kirche, um ein wenig still zu sein und zu beten. Da trat ein Mann mit seinem Sohn ein – ich schätze, der Junge war zehn Jahre alt. Die beiden schritten durch die Kirche, schauten den Raum aufmerksam an. Plötzlich erklang die Stimme des Sohnes: „Papi, wer ist denn der Mann da an dem Kreuz?“ Der Vater antwortete: „Das weiß ich leider auch nicht.“

Mich machte das traurig, aber zugleich auch stutzig. Dann fragte ich mich: Bin ich vielleicht der letzte Mohikaner in dieser Stadt, den so etwas traurig macht? Als Verlust kann man ja etwas nur dann empfinden, wenn man weiß, dass da etwas ist, was man verloren hat. Aber wenn man es gar nicht mehr weiß? Spürt man dann noch den Verlust? Irgendwann vergisst man, dass man vergessen hat – dann tut es auch nicht mehr weh. Und dann lebt man auch gut ohne dieses Wissen.

Vielleicht haben wir mehr verloren als nur das Wissen

Aber es stimmt ja nicht ganz. Der Junge fragt. Und der Vater bedauert, dass er nicht weiß. Vielleicht haben die beiden nach diesem Erlebnis zu Hause nachgesehen oder sich bei Freunden erkundigt. Ich erlebe immer öfter, dass Menschen es bedauern, so vieles nicht mehr zu wissen, was ihre Vorfahren über Jahrhunderte selbstverständlich wussten. Es geht dabei nicht nur um ein äußerliches Wissen. Vielmehr wollen sie dann auch verstehen, warum der Mann am Kreuz so vielen Menschen über so viele Generationen hinweg so viel bedeutet hat. Vielleicht hat man da noch mehr verloren als bloßes Bildungswissen.

Ich glaube, dass es ein Verlust ist, wenn wir nicht mehr wissen, wer der Mann am Kreuz ist.

Es geht ja um mehr als bloß um Wissen. Es geht um die Frage, welche Bilder uns wichtig sind. Ich war vor einiger Zeit in China. Da sah ich viele Bilder von Mao, von Xi Jing Ping, von dicken Götterfiguren, die Harmonie ausstrahlten. Gehe ich durch Berlin, sehe ich vor allem Plakate mit Menschen, die schöne Kleidung auf schlanken Körpern tragen und strahlend weiße Zähne blecken. Da möchte ich mich immer wieder vom Mann am Kreuz stören lassen. Er hängt ja nicht einfach grundlos am Kreuz, sondern weil er Überzeugungen hatte, für die andere ihn hassten.

Haben Sie eine Überzeugung, wegen der andere Sie nicht mögen? Da kann ich Sie trösten. Sie sind vermutlich nicht die oder der Einzige, der oder dem es so geht. Es könnte sogar sein, dass Sie sich in guter Gesellschaft befinden.


Klaus Mertes

Als Klaus Mertes, geb. 1954, noch nicht wusste, dass er eines Tages Jesuit, Lehrer und Kollegsdirektor werden sollte, hatte er eigentlich zwei Berufswünsche: Entweder in die Politik gehen und Reden halten, oder an die Oper gehen und als Tristan in Isoldes Armen sterben. Rückblickend lässt sich sagen: Als katholischer Priester kann man beides gut kombinieren: Öffentlich reden und öffentlich singen. Die Jugendlichen, die Eltern, die Kolleginnen und Kollegen in den Schulen und alles, was so im Lebensraum Schule und Internat anfallen kann, halfen ihm, vor den großen Fragen nicht zurückzuschrecken und zugleich bei den Antworten nach Möglichkeit nicht abzuheben. Seit Sommer 2020 hat er den Schuldienst nun verlassen und ist seitdem vor allem publizistisch und seelsorglich in Berlin tätig.

Foto: Wolfgang Stahl

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