Ein Interview mit der Philosophin und Theologin Katharina Ceming über Werte, Schwarz-Weiß-Denken und Diskriminierung
In den letzten Jahren sehen wir uns im öffentlichen Diskurs immer häufiger mit einer Wertedebatte konfrontiert. Im Zentrum stehen dabei meist Fragen zu Menschenrechten und Diskriminierung. Obwohl die meisten Formen der Ungerechtigkeit und Diskriminierung auf juristischer Ebene beseitigt sind, ist Diskriminierung immer noch ein Alltagsthema. Eine Intensivierung von Antidiskriminierungsbemühungen, die auf Identitätspolitik oder dem Konzept der kulturellen Aneignung basieren, war die Folge.
Katharina Ceming sieht diese Entwicklung kritisch, würde man doch dadurch ein massives Schwarz-Weiß-Denken fördern, das Eindeutigkeiten in einer hochkomplexen und globalen Gesellschaft sucht, die so aber nicht zu finden und nicht herzustellen sind. Ihr Buch versteht die Autorin einerseits als Plädoyer für eine größere Toleranz gegenüber unterschiedlichsten Ansichten und Einsichten, die alle nebeneinander Platz haben sollten, auch aber für eine tolerante Gesellschaft , die Voraussetzung dafür ist, dass ein Diskurs über kontroverse Themen möglich bleibt.
Sie haben ein Buch über Werte geschrieben – was war Ihr Antrieb dafür?
Mir war es wichtig zu zeigen, wie Individuen, aber auch Gemeinschaften zu Werten kommen und weshalb sich Werte im Laufe der Jahrhunderte verändert haben und weshalb wir gerade global und binnengesellschaftlich das Aufeinanderprallen sehr unterschiedlicher Werteparadigmen erleben.
Wie hängen Werte mit moralischer Identität zusammen?
Werte haben mit Bedürfnissen zu tun und die Bedürfnisse der unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen variieren sehr stark. Auf der einen Seite haben wir ein sehr gut gebildetes, oft junges kosmopolitisch orientiertes Publikum, das progressive Werte vertritt und sich gegen alle Formen von Diskriminierung engagiert, weil für sie Wertschätzung, Gleichberechtigung, Diversität wichtig sind. Auf der anderen Seite stehen Menschen, für die Tradition, Ordnung und das Vertraute wichtig und bedeutsam sind.
Juristisch gesehen sind die meisten Formen von Diskriminierung beseitigt. Betroffene sehen sich dem aber in ihrem Alltag nach wie vor ausgesetzt. Was ist Diskriminierung? Und wieso verändert sich die Auffassung dessen, was Diskriminierung bedeutet, immer weiter?
Die juristische Ebene ist die eine Seite. Hier hat sich der Gesetzgeber verpflichtet alles, was die Gleichwertigkeit von Menschen in Frage stellt, negativ zu sanktionieren. Ich denke, in diesem Bereich sind wir tatsächlich was die Antidiskriminierungsbestrebungen anbelangt, sehr weit gekommen. Die andere Seite ist das gesellschaftliche Miteinander, wo Menschen mit unterschiedlichen Haltungen, Überzeugungen, Vorstellungen vom guten Leben und Sensibilitäten aufeinandertreffen. Und hier können Menschen, die zu marginalisierten Gruppen gehören, immer noch Ablehnung und Diskriminierung erfahren, weil zum Beispiel nicht alle das moderne Paradigma der Gleichwertigkeit unterschiedlicher sexueller Lebensvollzüge teilen oder weil nicht alle Menschen Migranten als gleichwertige Mitbürger sehen.
Dass im progressiven Milieu heute zum Teil der Eindruck besteht, dass wir, was den Kampf gegen Diskriminierung anbelangt, immer noch im Mittelalter leben, hat damit zu tun, dass gerade dieses Milieu die Kriterien dessen, was als diskriminierend empfunden wird, verfeinert hat. Diese Verfeinerung können aber nicht alle Menschen gesellschaftlich nachvollziehen. Und hier kommen wir tatsächlich an einen kritischen Punkt.
Die Grundlagen für die Verfeinerung der Kriterien dessen, was als diskriminierend bewertet wird, wurzeln zum Teil in Theorien, die selbst umstritten sind, da sie wissenschaftlich gesehen methodische Mängel aufweisen. Darauf gehe ich unter anderem in meinem Buch ein.
Von Diskriminierung können wir sprechen, wenn Menschen aufgrund von Eigenschaften, für die sie nichts können oder die sie sich nicht ausgesucht haben, einer Gruppe zugeordnet werden und aufgrund dieser Gruppenzugehörigkeit schlechter behandelt werden als der Rest der Gesellschaft.
Thema rassistische Diskriminierung – bin ich ein rassistisch, weil ich weiß bin?
Wenn Sie von der Stimmigkeit der Theorie der „kritischen Weißseinsforschung“ überzeugt sind, dann ja. Dahinter steht die Überzeugung, dass das Weißsein die Norm ist, an der alles und jeder gemessen wird. Auch wenn Sie individuell Rassismus ablehnen, sind Sie, so Sie weiß sind entsprechend dieser Theorie, weil Sie Teil einer Gesellschaft sind, die auf rassistischen Strukturen basiert, strukturell ein Rassist oder eine Rassistin. Diese Theorie kommt aus Amerika. Ich halte sie für die europäischen Gesellschaften nicht für sehr hilfreich, da in Europa heute Rassismus nicht mit der Geschichte der Sklaverei und Rassentrennung verbunden ist, wie in den USA, sondern im Kontext der Migrationsdebatte auftaucht. Die Frage, weshalb Menschen mit Migrationshintergrund statistisch gesehen, häufiger in prekären Verhältnissen leben und gesellschaftlich eine untergeordnete Rolle spielen, lässt sich nicht nur mit rassistischen Gesellschaftsstrukturen erklären, auch wenn diese eine Rolle spielen können. Auch darauf gehe ich im Buch ein.
Was möchten Sie Ihren LeserInnen mit auf den Weg geben?
Ich möchte zum einen den Lesern und Leserinnen helfen zu verstehen, weshalb in den Diskussionen um diese kontroversen Themen oft so unversöhnliche Positionen aufeinanderprallen, indem ich zeige, mit welchen Theorien diese Überzeugungen verbunden sind. Ich möchte aber auch eine Lanze brechen für eine etwas höhere Ambiguitätstoleranz. Denn je komplexer eine Gesellschaft ist, desto weniger lässt sich in allen Lebensbereichen und Lebensäußerungen eine Eindeutigkeit herstellen.
Ich verstehe, dass viele Menschen eine Sehnsucht nach Klarheit und Eindeutigkeit verspüren, aber in einer offenen Gesellschaft können wir diese Sehnsucht nicht mehr verwirklichen, ohne selbst dogmatisch und ausgrenzend zu werden.
Zum Buch »Grenzwertig«
Katharina Ceming
Grenzwertig. Was in Debatten über Rassismus, Identitätspolitik und kulturelle Aneignung schiefläuft
Katharina Cemings Buch versteht sich als ein Plädoyer für eine offene und tolerante Gesellschaft, die die strukturellen Rahmenbedingungen für das Zusammenleben vieler unterschiedlicher Ansichten und Haltungen bieten kann und gleichzeitig die Voraussetzung dafür ist, dass ein ehrlicher Diskurs über kontroverse Themen möglich bleibt.
Gebunden, 144 Seiten
ISBN 978-3-7365-0487-5
Vier-Türme-Verlag Münsterschwarzach 2023
Foto: © Sabine Jacobs