Schlaflosigkeit, Stockinger, Insomnia

Sinn  

(K)ein sanftes Ruhekissen

Die Schwester des Schlafs – Insomnia

Wenn das Auge des Gesetzes im Wortsinn unermüdlich wacht, verhindert es keine Verbrechen. Im Gegenteil: Völlig übernächtigt kann man da schon einmal zum Mörder werden – so wie in Insomnia, einem Thriller des Regisseurs Christopher Nolan von 2002, in dem der unter der Mitternachtssonne Alaskas leidende Ermittler Will Dormer seinen Partner erschießt. Im Film wurde ‚das Auge des Gesetzes‘ in Dormers Auge konkret, das sich nächtens nicht mehr schloss, und so führte das fehlende Gleichgewicht zwischen Wachen und Schlafen bei ihm zu tiefgreifenden psychischen Störungen; er tötete im Wahn.

Es geht aber auch anders: In Dominik Grafs Frau Bu lacht (1995), dem unerreichten Meisterwerk aus der ARD-Reihe Tatort, wälzt sich Jenny (Barbara Ahren), eine sympathische Bekannte des Kriminalbeamten Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl), schlaflos im Bett. Die Folge dreht sich um das Thema Kindesmissbrauch. An Nachtruhe ist da nicht zu denken, und auch die Kommissare arbeiten rund um die Uhr an der Lösung des Falls.

Schlaf ist Wellness für die Seele

Unsere Gegenwart sorgt sich um den Schlaf. In einer übermüdeten Gesellschaft, in der uns Beschleunigungsangebote und Mobilitätszumutungen unter Stress setzen und zugleich eine Art Pflicht zur Selbstfürsorge besteht, genießt die Schlaflosigkeit keinen guten Ruf. Gut und ausreichend zu schlafen wird zu einer Forderung von unstrittiger Dringlichkeit und – das ist eine Paradoxie unserer Zeit – zur harten Arbeit an sich selbst. Die Zeichen stehen auf Entspannung. Schlaf ist Regeneration, Wellness für die Seele, überlebensnotwendige Verlagerung von Ungelöstem in die Anderswelt des Ich, wo dann erledigt werden kann, wofür tagsüber kein Möglichkeitsraum bleibt.

All das leuchtet unbedingt ein. Nur: Nicht jedem ist die Gabe des Schlafs geschenkt.

Schlafen zu können ist eine Gnade, keine Leistung aus eigener Kraft.

Dass etwas in einem immerfort denkt, gehört zu den Kennzeichen der Insomnia. „Das Wachen hat kein Subjekt“, wie Emmanuel Lévinas das so treffend auf den Punkt gebracht hat: „In der Schlaflosigkeit gibt es nicht mein Wachen über die Nacht; es ist die Nacht selber, die wacht. Es wacht.“ Es wacht in mir.

Wenn der Schlaf nicht kommt

Ich weiß, wovon die Rede ist, denn ich komme aus einer Familie der Schlafverweigerer. Der Schlaf verweigert sich uns. Wir mögen ihn, wir sehnen ihn herbei, wir erwarten ihn und hoffen auf ihn – aber doch wohl eher wie auf einen guten Freund, den man nicht allzu regelmäßig empfängt, warum auch immer.

Bei den Gründen angekommen, drängt sich eine Vielzahl an Fragen auf. Ertragen wir ihn nicht? Fürchten wir ihn? Wollen wir uns ihm nicht restlos hingeben? Lasse ich aber das Fragen sein und akzeptiere diesen Zustand, tut sich Ungeahntes auf: die Ruhe der Nacht, ihre Stille, ihre Leere, ihre Kühle. Vieles, was tagsüber ablenkt, erdrückt oder bedrängt, bleibt aus, spielt keine Rolle mehr. Und dann kommen Einsichten, die man nicht erwartet hätte, Antworten lassen sich finden, Dankbarkeit stellt sich ein. Und mit ihr der Schlaf.

Das Finale von Frau Bu lacht zeigt alle Beteiligten nochmals in kurzen Aufblendungen, während ein seit Tagen erwartetes Gewitter endlich hereinbricht. Es ist Nacht, doch kaum einer hat sich schon zur Ruhe begeben, alle wirken innerlich bewegt vom Erlebten. Allein Jenny schläft jetzt tief und fest. Die Rettung einer thailändischen Frau und ihrer kleinen Tochter aus den Händen eines Missbrauchstäters verschafft ihr im Wortsinn ‚ein sanftes Ruhekissen‘ – wenigstens vorläufig, denn: Das globale Problem des Menschenhandels ist nicht aus der Welt geschafft; das macht auch diese Tatort-Folge immer wieder klar. – Gefürchtete, geliebte Schwester des Schlafs, Insomnia.

Foto: © Annebel146/photocase.com


Claudia Stockinger

Prof. Dr. phil. Claudia Stockinger hat 1989 bis 1994 Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Universität Regensburg studiert und ihre Promotionszeit als Mitarbeiterin an der Universität Karlsruhe verbracht. Seit 2002 arbeitet sie als Professorin für Deutsche Philologie (Neuere deutsche Literatur), zunächst an der Georg-August Universität Göttingen, seit 2017 an der Humboldt-Universität zu Berlin; Rufe auf Lehrstühle an die Friedrich-Schiller-Universität Jena (2011) und an die Ludwig-Maximilians-Universität München (2019) hat sie abgelehnt. Forschungsschwerpunkte liegen in der Literatur- und Mediengeschichte vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart, u.a. zum Verhältnis von Literatur und Religion, zur Ästhetik und Praxis populärer Serialität und zur „Medienmedizin“ (C. Wulff). Seit 2008 arbeitet sie in unregelmäßigen Abständen, aber immer wieder gern in der Erwachsenenkatechese mit, ist seit 2009 Mitglied im Akademischen Ausschuss des Katholischen Akademischen Ausländer-Dienstes (KAAD), hat 2012 den Preis der Evangelischen Akademie Baden erhalten und ist seit 2019 Mitglied des Ausbildungskonsults der Jesuiten (SJ).

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