Matthias Rugel

Sinn  

Spiegelungen – Wer weiß, was da passiert?

Eine Anregung zum Staunen

Die Romantik stellte die Allmacht der Vernunft infrage – stattdessen rückte die Natur ins Zentrum: als Spiegel des Inneren, als Quelle des Authentischen. Matthias Rugel SJ fragt: Doch was geschieht, wenn Innen- und Außenwelt sich spiegeln?

Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.

Ich sorge mich, und in mir steht das Haus.
Ich hüte mich, und in mir ist die Hut.

Aus dem Gedicht „Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen“
von Rainer Maria Rilke

In der Zeit der Romantik begannen die Menschen an der Allmacht der Vernunft zu zweifeln. Kann man mit Denken und Aufklärung dem Ungeheuren und Bösen in der Welt beizukommen? Statt an das vernünftige Denken appellierten die Romantiker an die Natur, die inneren Intuitionen und natürlichen Strebungen. Die Unverfälschtheit der eigenen inneren Natur verspricht Heilung und lässt authentisch leben. Doch Natur bedeutet ja nicht nur „mein Wesen“ oder „mein Charakter“, sondern auch unberührte Landschaft, natürliches Wachstum, natürliches tierisches Verhalten, indigenes menschliches Leben.

Was ist das Verhältnis dieser Begriffe von Natur, der inneren und der äußeren?

Typischerweise redet man von Spiegelung, gegenseitiger Repräsentation. Was passiert, wenn sich Innen- und Außenraum spiegeln?

Mir scheinen diese Spiegelungen ein großes Rätsel zu sein. Freilich ein angenehmes Rätsel, vor dem ich staunend stehe. Mir scheint es zu geheimnisvoll, um es zu lösen oder aufzulösen. Wäre da nur zufällige Ähnlichkeit, wären so viele Bilder und Beschreibungen unserer romantischen Erzählerinnen und Dichter belanglos, irrelevant, reine Fantasie. Caspar David Friedrichs Landschaften entspräche keine innere Einsamkeit, den Schauerszenarien in „Die schwarze Spinne“ kein bedrohliches Unbewusstes, dem Finden der Prinzessin in den Märchen kein inneres Glück, weil das Gute getan wurde.

Es gibt diese wunderbaren Spiegelungen noch in ganz anderen Bereichen:

  • die Verdoppelung des Wahrnehmens bei einem physischen Spiegel
  • die Spiegelung von wahren Sätzen mit Tatsachen der Wirklichkeit
  • die Spiegelung von mathematischen Wahrheiten von großen Vielheiten in kleinen Vielheiten (zum Beispiel die Spiegelung der folgenden Sätze: (1) Zwischen zwei beliebigen Bruchzahlen liegen genauso viele Bruchzahlen, wie es insgesamt Bruchzahlen gibt. (2) Zwischen zwei beliebigen reellen Zahlen liegen genauso viele reelle Zahlen, wie es insgesamt reelle Zahlen gibt.)
  • die zeitweilige Spiegelung von Körper und Geist, etwa von mentalem Erschrecken und physischen Zurückweichen oder von innerer Freude in einem äußeren Gesichtsausdruck
  • das Wiederauftauchen derselben geometrischen Muster auf Fraktalen im Mikroskopischen und Makroskopischen
  • der Gleichklang zwischen zwei musikalischen Tönen und das mathematische Verhältnis der Längen der Saiten: Etwa entspricht der Oktave die Halbierung der Saite.

Spiegelungen als Basis eines Weltbildes

Philosophen wie Leibniz und Whitehead oder auch einige buddhistische Traditionen haben diese Spiegelungen nicht wegerklärt, sondern sie zur Basis eines Weltbildes gemacht. Für Leibniz etwa ist alles, was es gibt, Monaden, die je das ganze Universum spiegeln, angefangen mit Gott, dessen Spiegelung „Schöpfung“ heißt. Ein solches Weltbild ist mir sehr sympathisch.

Vielleicht gibt es auch eine Überwindung von Spiegelungen. Das Musterbeispiel für das Glück im jenseitigen Leben ist nach Paulus, nicht mehr in Spiegeln zu sehen, wie es hier üblich ist (und wirklich aufbauend sein kann), sondern „von Angesicht zu Angesicht“. Und dennoch, vielleicht ist das schon wieder der Spiegelung eines anderen Wesens im Augapfel der Himmelsstürmerin.

Veranstaltungsempfehlung:
Philosophie-Seminar mit Matthias Rugl SJ

Matthias Rugel

Evolution, Schöpfung, intensive Wahrnehmung – Teilkurs 2 (online) – Einführung in eine Philosophie des Staunens

Quereinstieg ist möglich!

Ist die Natur auf ein Ziel ausgerichtet?
Warum gibt es in der verwirrenden Vielfalt der Natur hier und da überwältigende Schönheit?
Was ist die Rolle von uns Menschen in der Natur?
Kann ein Gott verantworten, was unschuldigen Wesen Schlimmes passiert?
Wenn Sie beim Lesen dieser Fragen ins Grübeln gekommen sind und nach Antworten suchen, sind Sie zur Philosophin oder zum religiösen Denker geworden!

Wichtigste Textgrundlage unseres Kurses zu solchen Fragen ist das Buch »Pilger am Tinker Creek« der 28-jährigen Annie Dillard (*1945), die nach einer Lungenentzündung ein Jahr Auszeit vom Lehrberuf nahm, und in dieser Zeit alles beobachtet, was sich unter frischer Luft abspielt: Fluss, Wäldchen, Wiese und Garten. Dazu bringt sie Texte anderer Naturbeobachter zum Klingen, Erzählungen von Indigenen, biblische und kabbalistische Erleuchtungsgeschichten, Berichte von Naturwissenschaftlern und Schriftstellerinnen.
Der Kurs lässt viel Raum für Debatte und Kontroverse. Es werden auch spezifische Naturphänomene betrachtet und ausgewählte Positionen in der Geschichte der Philosophie nach ihrer Wahrheit durchforscht.


Matthias Rugel

Sucht den Sinn in Gesellschaft von alten und zeitgenössischen Philosophen und möchte in der Gesellschaft den Sinn für gemeinsames Leben mit Menschen aus aller Herren Länder stärken. Der Jesuitenbruder arbeitet als Bildungsreferent am Heinrich Pesch Haus. Der ehemalige Langzeit-Student, Jugendtheater- und Softwareentwickler organisiert auch in Corona-Zeiten ehrenamtlichen Sprachunterricht für Geflüchtete. Seine Ahnung ist, dass die Willkommenskultur bis heute mit dem Reich Gottes zu tun hat.

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