Aussteigen aus dem Weltenlauf, sich in eine andere Umlaufbahn begeben. Ehrlich gesagt: Kaum ein Wunsch ist in diesem verrückten Jahr drängender als der Wunsch nach einer Flucht aus dem Alltag. Eine der besten Gelegenheiten für so ein Unterfangen ist „Mondenkind“, das neue Album des Jazz-Pianisten Michael Wollny. Es führt nicht nur weg von der Erde, sondern zeigt auch, wie schön Einsamkeit sein kann.
Genau 46:38 Minuten Spielzeit. Man könnte meinen: naja, die ganz normale Dauer einer üblichen Schallplatte. Doch ist das eine ikonische Zeitspanne. Am 20. Juli 1969 verließen die Astronauten Neil Armstrong und Edwin Aldrin das Schiff „Columbia“, um wenige Stunden später als erste Menschen auf dem Mond zu landen. Der dritte Astronaut der Crew, Michael Collins, blieb an Bord zurück und umkreiste den Mond. 46:38 Minuten war er dabei jeweils vom Blick- und Funkkontakt zur Erde abgerissen. Allein auf der dunklen Seite des Mondes. Manche Medien sprachen vom einsamsten Menschen der Welt …
An diesen Eindruck knüpft die Situation beim Entstehen des neuen Albums von Michael Wollny an: „Zwei Tage verbrachte ich, zum ersten Mal seit langem allein und ohne Mitmusiker, im großen Aufnahmeraum des Berliner Teldex Studios. Auf dem Weg zu den Aufnahmen saß ich allein im Auto, fuhr durch eine leere Stadt, am Abend lief ich zurück in mein menschenleeres Hotel, es gab nicht nur keine weiteren Gäste, sondern auch kein Personal. Ich war absolut allein mit mir und der Musik, und die Ideen, die sich aus dieser Situation ergaben, gingen weit über den ursprünglich gesetzten Rahmen des Albums hinaus. Das Alleinsein brachte mich dazu, über radikale Solisten nachzudenken, und so kam mir die Geschichte des Astronauten Michael Collins in den Sinn, der während der Apollo-11-Mission allein den Mond umkreiste, und dabei immer wieder jeden Kontakt zur Erde verlor.“
Namenspate aus der »Unendlichen Geschichte«
Aus diesem Alleinsein ist ein Solo-Album im wahrsten Sinne des Wortes entstanden: Michael Wollny allein am Flügel. An sich ist das nichts Besonderes für einen Jazz-Pianisten; doch das Album ist – nach zwölf Aufnahmen, bei denen Michael Wollny federführend war – tatsächlich das erste Piano-Solo-Album des Künstlers.
„Mondenkind“ – der Titel des Albums stammt aus Michael Endes „Unendlicher Geschichte“. „Das Wort ist kein Selbstportrait, sondern kennzeichnet einen Schlüsselmoment im Buch, in dem der Protagonist – allein auf sich gestellt – seiner Welt einen neuen Namen gibt und damit erneut belebt. Eine Aufgabe, die sich einem Musiker eigentlich mit jedem neuen Album stellt – und ganz besonders mit einem Solo-Album.“
Überall ist das All
Eine ganze Reihe von Künstlern zog die Vorstellung von Einsamkeit und Schwerelosigkeit des Weltalls in den Bann: David Bowies „Space Oddity“ feiert die Hypnose der Einsamkeit in den Weiten des Raums. Pink Floyd lassen sich auf „Dark Side Of The Moon“ komplett auf die Unfassbarkeit des Unbekannten ein. Und „Mondenkind“?
Loops, digitale Klanggebilde, Echoeffekte … bei Titeln wie „Lunar Landcape, „Spacecake“ oder „The Rain Never Stops On Venus“ wäre das ein naheliegendes Instrumentarium. „Mir war relativ schnell klar, dass ich einen ‚klassischen‘ Ansatz wählen wollte, bei dem der volle, dynamische, lebendige Raumklang eines großen Konzertflügels im Mittelpunkt steht. Keine Studiotüftelei, keine Effekte.“ Die Entscheidung spürt man an der Klarheit der Musik. Und ganz ehrlich: Man vermisst nichts.
Das Album ist aufgebaut wie ein Soundtrack und erzählt von einer Reise zum Mond. Ganz unterschiedliche Songs und Herkunftslinien nimmt es dabei mit ins Boot. Zusammen ergeben sie einen großen Bogen, voller Spannung und Entspannung, filmisch, erzählend.
Gut die Hälfte der Stücke stammen aus Wollnys Feder. Die andere Hälfte von Musikern, die für ihn eine besondere Bedeutung haben: Sängerin und Songschreiberin Tori Amos, die Band Timber Timbre, die Neutöner Alban Berg und Rudolf Hindemith oder auch auf aktuelle Pop-Welten wie Sufjan Stevens, Bryce Dessner und Nico Muhly.
Keine Angst vor Einsamkeit!
Ich mag das, wenn Alben von einem Konzept oder einem Thema umklammert sind und doch so ganz unberechenbare Momente haben. Genau das ist der Reiz an der Reise, auf die „Mondenkind“ mitnimmt: Das kurze Stück „Enter Three Witches“ macht einen angenehm ratlos – dann kommt das herrlich pathetische Alban-Berg-Stück „Schließe mir die Augen“, das einen fast die Tränen in die Augen treibt.
46:38 Minuten Alleinsein. Das muss man aushalten können. Aber vielleicht ist dieses Album der beste Beweis dafür, dass Alleinsein eines der schönsten Dinge ist, die es gerade gibt. Wer sich darauf einlässt, bekommt vielleicht im Huckepack auch noch eine Portion Schwerelosigkeit dazu. Besser kann es nicht kommen, oder?
Das Album „Mondenkind“ von Michael Wollny ist als Vinyl, CD und Download Ende September 2020 bei ACT erschienen.