Ein Impuls von Klaus Mertes zur Fastenzeit (5)
Bis vor kurzem leitete ich eine Internatsschule im Südschwarzwald. In einer Internatsschule ist die Verbundenheit der ehemaligen Schülerinnen und Schüler untereinander besonders eng, da sie ja über Jahre hinweg beinahe wie Geschwister zusammengelebt haben.
Das mag zunächst romantisch klingen, ist es aber nicht, wenn man sich den Unterschied zwischen Geschwistern und Freunden klar macht: Freunde kann man sich aussuchen, Geschwister nicht. Deswegen sind Familienkonflikte oft besonders schmerzlich. Und Konflikte in Schule und Internat auch.
Einmal saß ich bei einem Treffen mit ca. 30 ehemaligen Internatsschülern. Sie hatten vor 40 Jahren Abitur gemacht. Wir sprachen miteinander. Plötzlich erhebt sich ein Mann und sagt: „Liebe Mitschüler, ich betrete seit 40 Jahren zum ersten Mal das Gelände meiner alten Schule. Bisher habe ich nie ein solches Treffen besucht. Diesmal aber bin ich dabei, denn ich möchte euch erzählen, warum ich den Ort bisher gemieden habe.“ Und dann erzählt er seine Geschichte von Missbrauch, Vereinsamung, Scham und Mobbing. Die Atmosphäre des Zusammenseins verändert sich schlagartig. Die Erzählung löst bei anderen Teilnehmenden die Zunge. Sie fangen an, eigene Geschichten zu erzählen, die sie bisher nicht erzählt haben. Andere staunen und sagen: „Ach, deswegen hast du dich damals so verhalten.“ Es fließen Tränen, einige liegen sich sogar in den Armen, kurz gesagt:
Es ereignet sich Versöhnung.
Ergebnis der Missbrauchsdebatten
Ich sehe solche Erfahrungen unter anderem auch als eine Frucht der Missbrauchsdebatte der letzten Jahre an. Das Schweigen ist gebrochen. Jetzt kann Geschichte neu gedeutet und verstanden werden. Es sind nicht nur die Betroffenen, für die sich etwas löst. Vielmehr ist ihr Sprechen am Ende auch ein Segen für ihr gesamtes soziales Umfeld, wenn es denn angenommen wird. Es gibt eben eine Alternative zum ewigen Scheitern von Aufarbeitung. Sie kann auch gelingen und zu Frieden für die Beteiligten führen.