Ein Besuch an der Birmingham University School
Ein offenes, helles schönes, neues Schulgebäude, in dem die Schüler*innen eigene Arbeitsplätze in der großen zentralen Aula haben und Lehrkräfte eigene kleine Büros mit einem eigenen Schreibtisch zum ruhigen und konzentrierten Arbeiten vor Ort. Eine Schule, in der curricular »Character-Education« in allen Fächern verankert ist. Als ich von dieser Schule zum ersten Mal hörte, war ich ganz begeistert, aber auch gleichzeitig etwas skeptisch: Wie kann man sich das denn konkret vorstellen?
Im Zuge einer internationalen Konferenz durfte ich vor den Sommerferien die University of Birmingham School besuchen. Diese Schule hat sich auf die Fahnen geschrieben, Charakterentwicklung und akademische Leistungen gleichermaßen in den Blick zu nehmen mit dem ausformulierten Ziel: „creating better citizens, better communities, and a better world.“ Dazu arbeitet die Schule eng mit einem interdisziplinären Institut der Universität Birmingham zusammen, das bereits seit zehn Jahren in diesem Bereich umtriebig ist: das Jubilee Center for Character and virtues. Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Bereichen entwickeln gemeinsam mit Lehrkräften vor Ort Unterrichtsmaterialien und evaluieren die Anwendbarkeit im Unterricht, die curriculare Verknüpfung sowie die Lern- und Entwicklungseffekte desselben.
Die Schule hat versucht, bei der Zusammensetzung der Schülerschaft die verschiedenen Communities der Stadt widerzuspiegeln und deshalb ein System entwickelt, das Schüler aus vier verschiedenen Sektoren um bestimmte U-Bahn-Haltestellen herum aufnimmt. Wichtig war die Idee der Diversität: sozial, kulturell, religiös und auch akademisch. Viele Schüler*innen kommen aus Haushalten, die sozial und ökonomisch benachteiligt sind. Allen soll es ermöglicht werden, zu lernen und als ganze Persönlichkeiten während ihrer Zeit an dieser Schule zu wachsen.
Tugenden im 21. Jahrhundert?
Zu dieser Persönlichkeitsentwicklung gehört an der Birmingham University School ganz klar der Begriff der Tugend. Tugend – ein Begriff, der für mich im Deutschen sehr antiquiert klingt und irgendwo zwischen Rittertum, Keuschheitsgürtel und NS-Propaganda angesiedelt ist. Tugendbildung hat für mich einen Hauch von Reaktionärem, von „Zucht und Ordnung“, von Tante Lisbeth, die ihre Kinder immer bei Androhung von Strafe gezwungen hat, bei Familienfesten allen Anwesenden einzeln die Hand zu geben, „weil sich das so gehört“. Die Tugenden, die hier vermittelt werden, haben aber weniger mit steifen Benimmregeln oder Sexualmoral zu tun. /
Zusammen mit dem Jubilee Center greift die Schule auf Tugenden zurück, die seit Aristoteles für das Zusammenleben in einer Gemeinschaft wichtig sind.
Diese „Virtues“ begrüßen alle Schüler*innen und Lehrkräfte jeden Tag beim Betreten des Schulgebäudes. In großen Lettern prangen Wörter wie „Compassion“, „Empathy“ „Commitment“, „Gratitude“, „Humility“, aber auch „Critical Thinking“ und „Determination“ an der gläsernen Eingangsfront der Schule.
Wichtig ist der Schule, dass solche Tugenden nicht von der Kanzel herab „gepredigt“, sondern für die Schüler*innen erleb- und reflektierbar gemacht werden, sodass diese selbstgesteuert diskutieren und für sich überlegen können, was für sie in ihrer aktuellen Lebenssituation wichtig ist und erstmal bleiben soll. Und dadurch ihr individuelles, selbstbestimmtes „Warum“ zu finden. Zu lernen, dass dieser Prozess ganz und gar nicht einfach ist, und Scheitern und Veränderung der eigenen Perspektive zur Bildung eines eigenen Charakters dazu gehört.
Wie sieht das im Schulalltag aus?
Mit Geschichten lernen: Der Zugang zu vielen Tugenden gelingt besonders gut über die Arbeit an Narrationen – in Sprachfächern sowie Theater- oder Musikunterricht wird über das Handeln der Akteure und die dahinterliegenden Tugenden nachgedacht und diskutiert. Wichtig ist aber besonders die Frage – was kann ich als Person für mich und die eigene, individuelle Lebenssituation lernen? Dazu passt auch, dass die Bibliothek der Schule besonders gut ausgestattet ist und das Bibliotheksteam jede Woche zusammen mit Schüler*innen ein sogenanntes „Book-Flix“ zusammenstellt, wo die beliebtesten Büchervorschläge im Netflix-Style aushängen.
Wie auch in Deutschland wird viel an der Schule über AGs (die hier „Enrichment“ genannt werden) gestaltet. Besonders gefallen mir der „Die Hard Harry Potter Fan Club“ aber auch „Tea with Senior Citizens“. Wieder zeigt sich, was der Schule wichtig ist:
Auch anhand von heiß geliebter Jugendliteratur kann Charaktererziehung betrieben werden: Harry ist ein Vorbild für „Mut“, aber auch „Dienst an der Gemeinschaft“ sowie „Resilienz“ (und darf zwischendrin scheitern und Hilfe von seinen Freunden Hermine und Ron annehmen).
Beim Tee mit den Älteren steht das Lernen am Vorbild im Zentrum, aber es geht auch um Perspektivwechsel und manchmal auch um Mitgefühl. Wichtig ist außerdem, dass diese Erfahrungen in aller Freiheit mit der AG-Leitung reflektiert und eingeordnet werden können.
Herausragend finde ich jedoch, dass die Charakterbildung eben nicht nur in den AGs, sondern auch im tatsächlichen „Schul-Curriculum“ verankert ist und alle Arbeit durchdringt.
Die Lehrkräfte haben die staatlich vorgegebenen Curricula pro Fachbereich so umgeschrieben, dass Charakterbildung neben Wissens- und Kompetenzerwerb überall vorkommt: Es gibt Einheiten zum Üben von „Demut“, „Dienst an der Gemeinschaft“, für „Motivation“ und „Respekt“ z. B. im Sportunterricht aber auch in den Naturwissenschaften. Ein Schüler hat davon erzählt, welch besondere Erfahrung für ihn das Kochen des „gratitude Meals“ war: Über einen längeren Zeitraum im Kurs „Kochen und Hausarbeit“ wurde gelernt, ein gesundes, reichhaltiges und besonderes Menü zu kochen. Am Ende der Lernphase lädt jede Schüler*in Menschen ein, bei denen er/sie sich für etwas ganz besonders bedanken will. Wie ich finde – ein großartiges Beispiel für die praktische Einbettung von „Dankbarkeit“!
Vision für eine bessere Zukunft
Die Vision des University of Birmingham School ist eine große: „creating better citizens, better communities, and a better world” – Wichtig ist aber nicht, dass diese Vision irgendwo auf Wänden oder in Hochglanzbroschüren steht, sondern dass sie in den Entscheidungen und Haltungen der einzelnen Lehrkräfte, im tagtäglichen pädagogischen Handeln mit den Schüler*innen, konkret wird.
Ich bin dankbar für diese ersten Einblicke und freue mich auf die weitere Zusammenarbeit mit den Kolleg*innen dieser Schule!
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