Wie sich Wolodymyr Selenskyj seit seinem Amtsantritt gewandelt hat
Ein Komiker wird Präsident der Ukraine − das kommt nur selten vor. Sergii Rudenko legt mit „Selenskyj. Eine politische Biografie“ ein Buch vor, das hinter die Kulissen des Kriegspräsidenten sieht. Er kommt zum Schluss: Von einigen seiner ehemaligen Mitstreiter hat sich Selenskyj getrennt, die Fassade des Helden bröckelt.
Selenskyj ist ohne Zweifel ein bemerkenswerter Mensch. Deshalb sind im Juli und August 2022 noch mindestens zwei weitere Biografien über ihn erschienen (eine von Steven Derix und Marina Shelkunova, eine von Wojciech Rogacin).
Mitstreiter und Kontrahenten
Sergii Rudenko zollt dem Präsidenten der Ukraine am Ende des Buches Respekt, im Vorwort legt er aber klar dar, was er an Selenskyj in Bezug auf seine (ehemaligen) Mitstreiter beobachtet hat:
„Einige Monate nach der Amtseinführung würde Selenskyj damit beginnen, sich seiner Mitstreiter auf dem Weg zum Sieg zu entledigen.“
Selenskyi ist für ihn nicht denkbar ohne seine Mitstreiter: „Sein präsidentielles Image verpasste ihm seine Entourage.“
Rudenko hat für sein Buch mit Dutzenden Menschen aus Selenskyjs Umfeld gesprochen. Viele der genannten Menschen sind wahrscheinlich vor dem Krieg gegen Russland nur Ukraine-Experten ein Begriff. So zum Beispiel Andrij Bohdan, der ein knappes Jahr von 2019 bis 2020 Leiter der Präsidialverwaltung war und immer mächtiger im Team des Präsidenten wurde − bevor Selenskyj ihn nach mehreren Entgleisungen durch Andrij Jermak ersetzte. Bei allen Differenzen eint die Selenskyj und Bohdan mittlerweile ein gemeinsamer Feind: Wladimir Putin.
Ein geleaktes Video
Bohdan ist nur einer von vielen, dessen Beziehung sich zu Selenskyj seit seinem Amtsantritt im Mai 2019 gewandelt hat. Zu nennen wäre hier exemplarisch auch der ehemalige Ministerpräsident Oleksij Hontscharuk, der sich auf einem Video über das fehlende Poltikverständnis Selenskyjs beklagte. Das Video gelangte an die Öffentlichkeit, zunächst lehnte Selenskyj seinen Rücktritt ab, doch das Vertrauen zwischen beiden war verspielt. Das zweite Rücktrittsgesuch Hontscharuks nahm der Präsident an. Rudenko folgert daraus: „Die Geschichte mit Hontscharuk demonstrierte: Präsident Selenskyj kann nicht verzeihen.“
Ein wichtiger Punkt, der durch den Krieg mit Russland an den Rand gedrängt wurde, ist das Thema Korruption. „Selenskyi schwor und beteuerte, nach dem Amtsantritt werde es keinerlei Klüngel und Freunde in der Staatsführung geben. … Kurz gesagt hielt Selenskyi sein vor der Wahl gegebenes Versprechen nicht ein. Innerhalb eines Jahres nach seiner Wahl zum Präsidenten war der Clan von Poroschenko durch den Clan von Selenskyi, genauer gesagt von Studio Kwartal 95, ersetzt worden.“
Vetternwirtschaft und Korruption
Rudenko listet genau auf, welche Freunde und Mitstreiter Selenskyjs welchen Posten in der Regierung erhalten haben. Das ist erschreckend, finde ich, von einem Neuanfang kann laut Rudenko keine Rede sein: „Der Weg Selenskyis erinnert an den Pfad, den seine Vorgänger beschritten haben.“ Dabei wollte sich Selenskyj gerade damit hervortun, dass er seinen Vorgänger Petro Poroschenko für dessen Korruption belangen wollte − bis heute ist daraus nichts geworden. Im Gegenteil: schon wenige Monate nach Amtsantritt Selenskyjs geriet seine Partei „Diener des Volkes“ in einen Korruptionsskandal.
Der Krieg mit Russland verdeckt meines Erachtens, dass Selenskyi sich durch die Macht gewandelt hat.
Einige seiner ehemaligen Mitstreiter sind jetzt keine mehr, auch wenn es mit Putin einen gemeinsamen Feind gibt. Und auch das Thema Korruption wirft einen Schatten auf den sechsten Präsidenten der Ukraine, den man nicht mehr belächelt, sondern dem man applaudiert. Trotzdem: Die Fassade Selenskyjs, sie bröckelt.
»Selenskyj. Eine politische Biografie«
Sergii Rudenkos „Selenskyi. Eine politische Biografie“ ist im Juli 2022 bei Hanser erschienen (ISBN 978-3-446-27576-8, 224 Seiten, 24 €).
Sergii Rudenko, geboren 1970, ist ein in Kyjiw beheimateter ukrainischer Journalist. Im ukrainischen Programm der Deutschen Welle ist er mit einer wöchentlichen Kolumne vertreten. Außerdem ist er leitender Chefredakteur beim privaten Informationssender Espreso.tv, der 2014 aus der Maidan-Bewegung hervorgegangen ist. Sein in der Ukraine 2020 erschienenes Buch ist die erste Biografie Selenskyjs und wurde für die internationale Publikation aktualisiert.
Fotos: wunderlichundweigand