Sinn  

Richtungswechsel in Krisenzeiten

Was der Roman „Der Buchspazierer“ in der Pandemie
zu sagen hat

Der Roman „Der Buchspazierer“ erschien im ersten Jahr der Corona-Pandemie und wurde schnell zum „Spiegel“-Bestseller. Obwohl das Buch vordergründig eine anrührende Geschichte um den Buchhändler Carl Kollhoff und seine Gehilfin Schascha erzählt, steckt mehr in dem Buch. Es erklärt nebenbei, was in Pandemiezeiten besonders wichtig ist.

Es kostet die kleine neunjährige Schascha Überwindung als sie dem alten Buchhändler Carl Kollhoff sagen muss: „Du musst deinen Kunden andere Bücher bringen! Die bestellen alle die falschen.“ Stirnrunzelnd kann der 72-Jährige nur erwidern: „Aber ich bringe ihnen genau die Bücher, die sie bestellen.“ Schascha sieht die Sache aber anders: „Wir bringen jedem das Buch, das er braucht!“

Was brauche ich?

Wollen und brauchen – ein Gegensatz, den auch die seit zwei Jahren anhaltende Pandemie zu Tage gefördert und verstärkt hat. Einerseits wollte und will man vieles, was verboten ist: große Familienfeste, Freunde treffen, Urlaub im Ausland machen. Doch was der Einzelne braucht, uns also guttut, ist eine ganz andere Frage. Was brauche ich, um die Nachrichtenlage zu Corona mental „verdauen“ zu können? Was bringt mir Freude?

Schascha, die eigentlich Charlotte heißt, hat mehrere Tage den Buchspazierer Carl Kollhoff beim Austragen der Bücher begleitet. Dabei trifft sie auf eigenartige Kunden Kollhoffs: der reiche Christian von Hohenesch liest zum Beispiel in seiner Villa nur Philosophisches, die von ihrem Mann geschlagene Andrea Cremmen lässt sich gerne Bücher bringen, in denen weibliche Hauptfiguren leiden und tragisch sterben. Und Dorothea Hillesheim, eine pensionierte Grundschullehrerin, mag nur leichte Kost seit ihr Mann von einem Ziegelstein erschlagen wurde. Es ist ein merkwürdiges Ensemble an Stammkunden, das Kollhoff jeden Tag aufs Neue im Buch des Weinjournalisten und Romanautoren Carsten Henn beliefert.

Schaschas Vorschlag, das zu lesen, was ich brauche und nicht das, was ich will, ändert die Romanhandlung – und nicht nur die.

Er könnte auch pandemiemüden Menschen helfen. Die Figur Dorothea Hillesheim ist dafür ein gutes Exempel. Sie verlässt seit dem Tod ihres Mannes ihr Haus aus Angst nicht mehr – sie befindet sich sozusagen im selbst gewählten Lockdown. Durch Schaschas Arrangement verlässt sie ihre sichere Festung und hilft einem Analphabeten, lesen zu lernen. Wie könnte der Vorschlag Schaschas in der Praxis also bei uns aussehen?

Letztlich zeigt der „Buchspazierer“ eben, dass nicht nur die Bücher das Leben ausmachen. Auch das muss sich Kollhoff von Schascha nach all den Jahren erklären lassen: „Du musst genau hinschauen, Buchspazierer! Die Leute lächeln, wenn du kommst, aber nicht, wenn sie die Bücher auspacken. Du bist ihnen nämlich viel wichtiger als die Bücher.“

Praxistest: Raus aus dem alten Trott

Gemeinschaft, gegenseitige Hilfe und ein neuer Job für Carl – was im Roman aufgegriffen wird, bleibt auch für uns relevant. Nicht zum x-ten Mal in den sozialen Medien versumpfen, sondern Kontakt zu Menschen im echten Leben halten – natürlich mit allen Hygienemaßnahmen. „Der Buchspazierer“ fordert heraus, in sich hineinzuhören und auf das zu achten, was man dort hört. Das ist bei jedem anders, das weiß auch das Buch: „Jeder Mensch braucht andere Bücher“, sagt Carl.

Es lohnt sich, aus dem Trott auszubrechen und als traurige „Effi Briest“ (wie Carl in seinen Gedanken Andrea Cremmen nennt) einen lustigen Roman zu lesen. Probieren Sie es aus!


„Der Buchspazierer“ von Carsten Henn ist 2020 beim Pendo Verlag erschienen (ISBN: 978-3866124776, 224 Seiten, 14 Euro).

Foto: © Wunderlich und Weigand


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