Stefan Weigand Plattensammlung

Versöhnung  

Plattenhören als Hingabe

Über ein nostalgisches Hobby jenseits der Berieselung

Kaum ein anderes Medium hat in den letzten Jahren eine solche Renaissance erlebt, wie Schallplatten. Dabei spricht alles gegen sie. Naja, fast!

Unhandlich, empfindlich, dazu auch schwer und manchmal auch ganz schön teuer: Schallplatten wirken neben einem Smartphone wie aus der Zeit gefallen. Noch dazu, wenn man bedenkt, dass wir in einer Zeit leben, in der wir fast unbegrenzten Zugriff auf Musikinhalte haben. Innerhalb von Sekunden liefern uns Streaming-Anbieter wie Spotify, Deezer oder Apple Music den Song, den wir gerade hören wollen. Das schafft kein Plattenspieler und nicht einmal der beste Plattenladen. Eigentlich könnte man das Medium Vinyl also getrost ins Museum verbannen – und die Plattensammlung zum Sperrmüll bringen. Aber ob das wirklich eine gute Idee ist?

4,2 Millionen Schallplatten wurden 2020 in Deutschland verkauft; vierzehn Mal mehr als im Jahr 2006, als die CD das Vinyl aus den Geschäften fast verbannt hatte. Außenstehende fragen bei manch vierstelligem Preisschild bei Plattenspielern zu Recht: Warum das alles?

Ich bin selbst einer dieser Sammler und Hörer. Platten aus dem Jazz-Label ECM haben es mir angetan, aber eben auch Electro- und Indie-Musik. Meine Kinder rollen schon mit den Augen, wenn ein quadratisches Paket in der Post ist oder ich „noch schnell“ in einen Plattenladen springe.

Spotify als Versuchung

Klar, auch ich entdecke neue Musik über Streaming-Anbieter und höre bei unbekannten Künstlern oder empfohlenen Band erstmal kurz rein. Aber das ist für mich nicht das Musikhören, das ich möchte. Denn zu verführerisch ist der Klick auf den Song oder das Sich-Treibenlassen auf Playlists, die Stücke von unterschiedlichen Künstlern zusammenstellen. Es ist so, als ob man zu jedem Lied gleich zu Beginn sagen würde: „Ich bin gerade auf dem Sprung, praktisch gar nicht da.“

Für mich ist Musikhören: Hingabe.

Ich gebe mich der Musik hin. Höre ein Album von Anfang bis zum Ende. Mit allem, was dazugehört: So kommen nicht nur Hits eines Werks vor, sondern eben auch die die B-Seiten und Stücke, die nicht im Rampenlicht stehen. Das schützt mich selbst davor, Musikhören nur als Berieselung zu gestalten: Weil ich mir Offenheit für die Dinge bewahre, die nicht gleich erfahrbar sind. Ich lasse nicht nur das an mich heran, was vermeintlich großartig ist, sondern auch das, was mehr Aufmerksamkeit braucht. Nicht nur den Hits hinterherjagen: Ich glaube sogar, es ist das, was auch eine gute Spiritualität ausmacht.

Foto: © Stefan Weigand

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Jesuiten Magazin

Dieser Artikel erschien erstmal in der Ausgabe 2022/1 vom Jesuiten Magazin. Das Magazin erscheint in vier Ausgaben jährlich und greift Themen aus Spiritualität, Gesellschaft und Glauben auf. Sie können es hier gratis abonnieren.


Stefan Weigand

Auf die einsame Insel würde er seine Familie, ein schönes Buch und seinen Plattenspieler mitnehmen. Nach dem Theologie- und Philosophie- Studium in Würzburg und Indien war er zunächst Sachbuchlektor in einem großen deutschen Verlag. Seit mehreren Jahren führt er eine Agentur für Buch- und Webgestaltung und wird als Konzeptionsberater bei Buchprojekten gebucht. Er ist Vater von vier Kindern. Als Autor widmet er sich einfachen Dingen, der Rolle als Vater, Jazz und Indie-Musik und Kulturthemen. Abseits der beruflichen Wege geht er mit seiner Familie zum Geocaching und an ruhigen Abenden widmet er sich seinem Faible für Literatur und Schallplatten.
www.stefan-weigand.com

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