Nordirland Belfast Konrad

Versöhnung  

„Ich war 16 Jahre alt, habe gekämpft und habe getötet“

Ein Besuch in Nordirland

Jeden Abend pünktlich um 19:30 Uhr werden die Tore der bis zu zwölf Meter hohen „Peace Lines“ in Belfast geschlossen. Protestantische und katholische Viertel sind dann voneinander getrennt. Die Viertel waren zwischen 1969 und 1998 Schauplatz der „troubles“, wie der jahrzehntelange gewaltsame Konflikt zwischen den protestantischen Unionisten, die den Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich unterstützten, und den katholischen Nationalisten, die eine Vereinigung mit der Republik Irland anstrebten, hier genannt wird.

Protagonisten beider Seiten waren damals im Belfaster Crumlin Road-Gefängnis inhaftiert. Männer, Frauen und sogar Kinder. Von hier starten heute Erinnerungstouren, begleitet sowohl von Anhängern der Royalisten als auch der Unierten. Nacheinander steigen Robert und Jack in unseren Bus und führen die Gruppe durch ihre Viertel, lassen die Geschichte lebendig werden und zeigen die Narben, die die „troubles“ hinterlassen haben. Dort hat die IRA eine Bombe in einer gut besuchten Metzgerei gezündet, hier kam es zu Schießereien …

Großflächige „murals“ und kleine Gedenkstätten, „memorial gardens“, erinnern an die Toten, darunter viele junge Menschen. „Ich war 16 Jahre alt, habe gekämpft und habe getötet“, sagt Robert, sichtlich bewegt und mit Tränen in den Augen. 16 Jahre saß er dafür im Gefängnis. Sein Appell an uns ist eindeutig: „Wendet keine Gewalt an!“ Die Reisegruppe ist sichtlich betroffen und wird diese Begegnung später als die eindrücklichsten und wertvollsten Momente der Irlandreise bezeichnen.

Wie latent der Konflikt noch heute ist, zeigen Kleinigkeiten. So sprechen die Protestanten von „Northern Ireland“, die Katholiken von „north of Ireland“. Noch immer leben die Menschen in konfessionsgetrennten Vierteln, von außen leicht zu erkennen – Katholiken in ärmeren Vierteln, Protestanten in wohlhabenderen. Über 90 Prozent der Kinder besuchen Konfessionsschulen. Hinzu kommt die Frage nach der Einigkeit von Irland – nach dem Brexit stehen die Iren einer Vereinigung mit Nordirland noch skeptischer als zuvor gegenüber. Klar ist: Die sozialen und politischen Spaltungen in Nordirland sind tief verwurzelt, und es bedarf auch heute noch kontinuierlicher Anstrengungen, um Fortschritte zu sichern und auszubauen.

Eine offene christliche Gemeinschaft

Doch es gibt Initiativen für ein friedvolles Zusammenleben und die Versöhnung der Konfessionen. Eine davon ist Corrymeela, eine Gemeinschaft hoch im Norden von Nordirland. „Idyllisch“, das ist mein erster Gedanke, als mein Blick über die Gruppenhäuser, großzügigen Grünflächen und vor allem das atemberaubende Nordsee-Panorama schweift. Hier kann man zur Ruhe kommen. Dazu trägt sicherlich auch das Herz der Anlage, das „Crei“, bei. „Für Frieden“ steht auf dem Türgriff des wie ein Schneckenhaus gestalteten Gebäudes. Im Zentrum ist der Andachtsraum. Ein keltisches Torfkreuz, eine geöffnete Bibel und eine brennende Kerze bilden den Mittelpunkt und erinnern daran, dass Christen die Einheit suchen sollen.

In diesem Raum, der Geborgenheit ausstrahlt, finden jeden Tag morgens und abends gemeinsame Gebetszeiten statt. „Wir sind eine christliche Gemeinschaft, aber total offen. Alle sind willkommen“, erklärt Ruth, eine der Ehrenamtlichen. Das Zusammenleben orientiere sich an Taizé. Freiwillige aus aller Welt arbeiten hier nach dem Leitspruch „to serve und learn“. „Durch Dienen und Lernen unterstützen sie die Gruppen hier“, erläutert Ruth. Die Gäste kommen aus dem In- und Ausland, alle Konfessionen sind vertreten und auch alle Schichten.

Ein Zeichen für Frieden

Der presbyterianische Geistliche Ray Davey, so erfahren wir, gründete die Gemeinschaft 1965 – und damit schon vor den „troubles“. Tief betroffen von den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs, wollte er ein Zeichen für Frieden setzen. Mit Corrymeela baute Ray Davey eine Gemeinschaft auf, die sich für Frieden, Versöhnung und Hoffnung einsetzt. Ihre Vision: Räume für Dialoge schaffen, Fähigkeiten in Konfliktlösung, Mediation und interkultureller Kommunikation vermitteln.

Das Zentrum in Ballycastle ist dabei der Dreh- und Angelpunkt, wo Menschen aus verschiedenen Gemeinschaften zusammenkommen können. Corrymeela wird von rund 150 Community Members getragen, die sich dreimal im Jahr treffen und über die Ausrichtung des Zentrums diskutieren.

Seit der Gründung ist Corrymeela weiter gewachsen, bis zum Brexit auch unterstützt durch EU-Fördermittel aus dem Europäischen Regionalfonds. Die Arbeit der Friedens- und Versöhnungsorganisation ist ein Pfeiler auf dem Weg zur Förderung von Dialog und Gemeinschaftsbildung wie auch zur Überbrückung tiefgehender Wunden im Land. Corrymeela ist sicherlich ein wichtiger Akteur in der nordirischen Friedensarbeit.

Doch ich bin überzeugt: Damit Nordirland wirklich zur Ruhe kommt, braucht es mehr als Friedensinitiativen. Es braucht eine grundlegende Änderung in der Gesellschaft – katholische und evangelische Kinder müssen zusammen aufwachsen und endlich gemeinsam die Schule besuchen. Nur so kann das ausgeprägte Lagerdenken nach und nach überwunden werden.

Headerfoto: pixabay; Fotos im Beitrag: © Dr. Anette Konrad


Anette Konrad

Ohne Block und Stift geht sie nie aus dem Haus. Denn die Journalistin könnte ja unterwegs auf ein spannendes Thema stoßen. Die promovierte Historikerin und Slavistin schreibt gerne über geschichtliche Themen, porträtiert faszinierende Menschen, verfasst aber auch Unternehmensporträts und Reisereportagen. Dabei verbindet sie Berufliches mit ihrer großen Leidenschaft: dem Reisen. Seit sie einige Monate in Moskau studiert hat, zieht es sie immer wieder nach Osteuropa. Im Heinrich Pesch Haus verantwortet sie die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.

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