Heinrich Pesch

Zusammenleben  

»Einer für alle, alle für einen«

Im Sinne von Heinrich Pesch an einer solidarischen Gesellschaft mitwirken

Mit seinem mehrfach verfilmten, 1844 erstmals veröffentlichten Roman „Die drei Musketiere“ gelang Alexandre Dumas eine kleine Sensation. Athos, Aramis, Porthos, Musketiere der Garde des französischen Königs, haben zusammen mit d’Artagnan die Herzen vieler Leserinnen und Leser erobern können – nicht zuletzt dank ihrer unverbrüchlichen Solidarität untereinander und mit dem König. Einmal in diese erlesene Gemeinschaft aufgenommen, darf sich jeder Musketier gemäß des Wahlspruchs „Einer für alle, alle für einen“ in ihr unverbrüchlich aufgehoben wissen.

Ortswechsel: Zur selben Zeit im Eulengebirge

1844 ist auch das Jahr des schlesischen Weberaufstandes. Im Zuge der kapitalistischen Industrialisierung sind große Teile der Bevölkerung verelendet, da das Weberhandwerk so gut wie keine Erträge mehr erbringt. Im Juni 1844 solidarisieren sich die schlesischen Weber untereinander im sogenannten „Weberzug“ und fordern von den Fabrikanten eine bessere Bezahlung. Auch sie rufen nun gleichsam: „Einer für alle, alle für einen!“ In Folge dessen kommt es im Land zu verschiedenen Solidarisierungen mit den Webern, aber auch zur (präventiven) Bekämpfung von Unruhen durch die staatliche Obrigkeit.

Gruppensolidarität: Musketier oder Weber?

Sowohl bei den Musketieren als auch bei den schlesischen Webern bedeutet Solidarität eine Verschränkung von Einzel- und Gruppenwohl, von einzelnen und gemeinschaftlichen Interessen. Verständlicherweise richtet sich der Unmut der Weber besonders gegen jene Fabrikanten, die als Weber angefangen haben und sich nun entsolidarisieren. Der entscheidende Unterschied zwischen den Musketieren und den Webern liegt jedoch darin, dass die Gruppensolidarität dort für den einzelnen eine ehrenvolle Perspektive verspricht, hier hingegen kaum zur faktischen Verbesserung der Lebensverhältnisse beiträgt. Zu den Musketieren zu gehören, ist ein Privileg der Wenigen, zu den Webern die Noten der Machtlosen. Der Erfolg des Solidaritätsgedankens hängt folglich immer von der Art der Gruppe und ihrer gesellschaftlichen Stellung ab.

Heinrich Pesch: Die Lösung heißt Solidarismus

In Reaktion auf die Verelendung breiter Bevölkerungsschichten im 19. Jahrhundert hat der Jesuit und Nationalökonom Heinrich Pesch (1854–1926) den Solidaritätsgedanken auf die Ebene eines sozialethischen Prinzips und einer politischen wie ökonomischen Rahmenordnung gehoben. Der Ausgleich zwischen Einzelperson und Gemeinschaft soll von und auf staatlicher Ebene gewährleistet werden. Dieses Programm nennt Pesch als Alternative zum Liberalismus (Betonung der Freiheitsrechte des einzelnen gegenüber dem Staat) und zum Kommunismus (Betonung der Vergemeinschaftung) Solidarismus. Die Zugehörigkeit zur Gruppe ist die Gemeinschaft aller Bürgerinnen und Bürger eines Staates. Damit handelt es sich weder um eine Solidarität der Privilegierten untereinander, noch um eine aus der Not geborene Gemeinschaft.

Solidarität als Ordnungsprinzip

Verstehen wir Solidarität als Ordnungsprinzip, dann geht es nicht allein um die zwischenmenschliche Ebene, wie Familien und Freundschaften, und um die innerhalb spezifischer Gruppen, wie den Musketieren und Webern, sondern um die Gesamtorganisation unserer Gesellschaft. Ihre Strukturen sollen die Bezeichnung „solidarisch“ verdienen. Ihnen muss es gelingen, einen Ausgleich zwischen dem Gemeinwohl aller und den Einzelinteressen herzustellen, wobei die Bedürftigsten am meisten in den Blick zu nehmen sind. Die Perspektive ist, allen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Auf diese Solidarisierung – „alle für einen“ – hat jeder als Mensch einen Anspruch. Und gleichzeitig ist jeder dazu verpflichtet, seinen Beitrag zu leisten, damit den anderen dies ermöglicht wird – „einer für alle“.

Der Kampf um Solidarität: Eine feine Balance

Solidarität ist natürlich keine Selbstverständlichkeit. Sie ist ein hart erstrittenes kulturelles, rechtliches, ökonomisches und politisches Gut. Zu gesamtgesellschaftlicher Entsolidarisierung führen hingegen:

  • Der Zerfall in Gruppensolidaritäten: „Wir für uns und alle für uns“
  • Ein Fokus auf die eigenen Interessen „Ich für mich und alle für mich“
  • Eine Überdehnung der Beanspruchung „Ich für alle und niemand für mich“
  • Eine Überbeanspruchung einzelner Gruppen „Wir für alle und niemand für uns“

Weder dürfen einzelne übermäßig auf Kosten der Gemeinschaft leben – und das gilt gerade für diejenigen, die aus einer entsolidarisierten Gesellschaft Vorteile für sich ziehen können – noch darf die Gemeinschaft einzelne so für sich beanspruchen, dass diese das Einzel- im Gemeinwohl nicht mehr aufgehoben sehen können.

Sich über das „Wir“ der Gesellschaft neu verständigen

Wer danach fragt, ob eine solidarische Gesellschaft für ihn den größten Vorteil einbringt, hat die Grundidee, wie Heinrich Pesch sie formuliert hat, (bewusst) nicht verstanden. Es geht nicht um Vorteile, sondern darum, wie allen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht werden kann. Dies hängt im Konkreten natürlich von den zur Verfügung stehenden gesellschaftlichen materiellen Ressourcen ab.

Die entscheidende ideelle Frage, die wir uns stellen müssen, lautet, wie wir das „Wir“ unserer Gesellschaft fassen. Wollen wir uns auch in Zukunft als eine solidarische Gesellschaft verstehen, dann wird kein Weg daran vorbeiführen, uns gerade und angesichts der verschiedenen gegenwärtigen Krisen über dieses „Wir“ neu zu verständigen.

Diese Verständigung kann angeleitet, aber nicht aufgezwungen sein. Nur wenn sie der demokratischen Willensbildung unterliegt, darf sie als Ausdruck der Selbstbestimmung aller Bürgerinnen und Bürger angesehen werden. Eine Gesellschaft, der dies nicht zugetraut wird, die es sich selbst nicht zutraut oder die kein Interesse daran hat, beginnt aufzuhören, sich demokratisch und dann auch solidarisch nennen zu dürfen. Die Besinnung auf den Solidaritätsgedanken setzt insofern eine Stärkung der öffentlich-kommunikativen Verständigung voraus.

Veranstaltungstipp zum Thema


Benedikt Schmidt

ist Juniorprofessor für Theologische Ethik am Zentralinstitut für Katholische Theologie der Humboldt-Universtität zu Berlin

Bild: © M.Heyde/HU Berlin

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