Regina Laudage-Kleeberg

Versöhnung  

Obdachlos katholisch

Regina Laudage-Kleeberg über die Sehnsucht, dass Kirche wieder ein Zuhause ist

Regina Laudage-Kleeberg ist sich sicher: Katholisch zu sein, das tut ihr gut – die Werte, die Traditionen und Rituale, darin fühlt sie sich zu Hause. Wenn da nur die Institution nicht wäre! Die legt es förmlich darauf an, die Gläubigen hinauszutreiben – und obdachlos katholisch zu machen. Wie bleibt man katholisch, wenn die Institution Kirche so menschenverachtend unterwegs ist? Und was, wenn die Kirche lernen würde, ihren Mitgliedern wieder ein Zuhause anzubieten?
Ein persönlicher geprägter Text aus dem neuen Buch von Regina Laudage-Kleeberg.

Wenn ich sonntagmorgens auf dem Spielplatz sitze, mit einem Mettbrötchen neben mir auf der Bank, einem Cappuccino in der Hand, den Kindern auf dem Klettergerüst bei ihren mutigen Kunststücken zusehe, dann höre ich in der Kirche nebenan die Glocken läuten. Mein Leben lang hat mich dieses Läuten gerufen: Auf freundliche, liebevolle Weise erinnert meine Glaubensgemeinschaft lautstark daran, dass es Zeit wird – für mich und Gott. Zusammenzukommen, still zu werden, dankbar zu sein.

Und obwohl der Impuls in mir immer noch da ist, stehe ich sonntagmorgens von der Spielplatzbank nicht auf. Ich gehe nicht in die Zehnuhrdreißig-Messe, nicht in die um elf und auch nicht in die um achtzehn Uhr.

Wie ist es so weit gekommen? Dass ich kaum noch in Gottesdienste gehe? Dass ich den geliebten Beruf in der Kirche gekündigt habe? Und das tolle Engagement als katholische Radiosprecherin auch?

Mein katholisches Obdachloswerden war und ist ein schleichender Prozess. Es ist nicht plötzlich passiert: Wohnung weg. Und zack!

Vielmehr habe ich lange versucht, immer wieder in dieses kirchliche Zuhause einzukehren bzw. zurückzukehren. Manche Jahre ist mir das sehr gut gelungen, das Zuhause fühlte sich eine Weile für mich persönlich sogar sehr stabil an. In anderen Jahren habe ich gekämpft um mein Zuhause, habe bei den anderen Bewohner:innen angeklopft, wollte reden über das, was sich verändern muss. Und trotzdem habe ich immer öfter erlebt, dass sich das Zuhause zwar gewohnt anfühlt, aber nicht richtig. Auf diesem Weg ist in mir eine tiefe Ambivalenz entstanden: Die Sehnsucht nach dem Aufgehobensein traf auf die Wut über die misslungene Aufnahme.

Warum das so schlimm ist?

Warum das so schlimm ist? Katholisch zu sein – das gehört zu meiner Person. Ich kann es nicht einfach abstreifen wie ein zu klein gewordenes Kleidungsstück. Ich kann nicht davor weglaufen. Wenn es um das Katholische geht, um meine Religion, dann ist bei mir alles automatisch existenziell, tief biografisch verwoben, und nicht im Geringsten einfach. Denn meine Religion, und zwar in der römisch-katholischen Prägung, greift tief und täglich in mein Leben hinein.

Um mich herum erlebe ich Menschen, die innig dafür werben, hitzig darum streiten, dass sich die katholische Kirche verändern muss. Wenn ich davon ausgehen darf, dass das Katholischsein auch für andere eine existenzielle Bedeutung hat, dann geht es im Streit um Reform und Weiterentwicklung um nichts weniger als um das eigene Leben.

Umso logischer erscheint es mir, dass auch Ausgetretene noch wütend über das Gebaren der offiziellen Kirche sind. Es scheint, als ob die Menschen in tiefer Ambivalenz mit ihrer Kirche leben: Entweder fragen sie sich als Kirchenmitglieder, ob und wie lange sie wirklich noch »zu diesem Laden« gehören wollen. Oder sie fragen sich nach dem Austritt, wo sie mit ihren Sehnsüchten, Spiritualitäten und Sorgen ein (neues, vorübergehendes oder wechselndes) Zuhause finden können.

Diese Ambivalenz ist eines der zentralen Prägemale des obdachlosen Katholischseins.

Ein Dilemma

Schon seit meiner Kindheit ist Katholischsein ein Dilemma: Ich will dazugehören, aber will ich »da« wirklich dazugehören? Mein Katholischsein ist geprägt von einer Fülle von tiefen spirituellen Erfahrungen des Aufgefangenseins, von Heilung und Ermutigung. Und es ist geprägt von einer Fülle von Widersprüchen, Wut und Enttäuschung über das Handeln der institutionellen Kirche.

Durch das Zusammenleben mit einem katholischen Theologen habe ich manches am Küchentisch über Theologie gelernt, anderes auf dem Sofa erzählt bekommen. Was ich dabei verstanden habe, ist Folgendes: Ich habe ein überzeugtes katholisch-theologisches Menschenbild, das den Menschen groß, unbedingt geliebt und von Gott angenommen denkt, egal was er leistet oder wie viel er falsch macht. Dieser Mensch ist von Gott mit Freiheit beschenkt und hat die Verantwortung, mit dieser Freiheit umzugehen.

Und während ich anderen dieses Menschenbild predige, zusage und versuche, danach zu leben, gibt die römisch-katholische Kirche in ihrer offiziellen Gestalt ein immer menschenfremderes, oft auch menschenverachtendes Bild ab. Die offizielle Kirche drängt mich und viele andere aus sich heraus – fahrlässig, so scheint mir. Auf das eigene Recht, die eigene Wahrheit bedacht, werden Menschen gedemütigt, abgeschreckt und verprellt.

Was ich seit Jahren merke: Ich bin nicht mehr bereit, die TOP 3 der katholischen Menschenverachtung zu akzeptieren:

  • Die sexualisierte Gewalt, ihre Ermöglichung, Relativierung und Vertuschung.
  • Den strukturellen Sexismus, also die Ungleichstellung von Frauen und non-binären Menschen beim Zugang zu Ämtern und damit verbundenen Führungsaufgaben.
  • Die systematische Abwertung von queeren Menschen, ihren Beziehungen, ihrer Sexualität.

Austreten?

Der naive Aufruf von konservativen Katholik:innen, Menschen wie ich sollten doch einfach evangelisch werden oder austreten, wenn uns die Lehre nicht passt, lässt mich als Religionswissenschaftlerin kalt.

Regina Laudage-Kleeberg

Eine Religionszugehörigkeit ist nicht einfach zu verändern – daran hängt so viel Biografie, so viel eigene Geschichte. Das alles wird auch nicht mit einem Austritt oder einer Konversion einfach abgewaschen. Als ich vor Jahren für ein Jüdisches Museum eine Ausstellung über Religionswechsel kuratiert habe, sagte ein Mann es sehr einfach: »Ich bin im Kopf evangelisch, im Bauch katholisch.« Er war nach vielen Jahren der Auseinandersetzung aus der katholischen Kirche ausgetreten und in die evangelische Kirche eingetreten.

Aber wie geht Katholischsein heute, wenn es mit den TOP 3 trotz einzelner Lichtmomente nicht umfassend besser wird? Was bleibt vom eigenen Katholischsein übrig, und wie bleibt man katholisch? Ob nun als steuerzahlendes Mitglied, als ausgetretene:r Getaufte:r oder als konvertierter Mensch?

Sicherlich ist die Antwort so vielschichtig wie die Menschen, die sie geben. Die einen werden sagen: »Ich bin nicht mehr katholisch«, wenn sie austreten. Die anderen werden sagen: »Mit dem Laden hatte ich nie etwas zu tun, das alles bedeutet mir nichts.« Andere bleiben, gehen aber nicht mehr hin. Wieder andere bleiben und tolerieren, was geschieht. Dann gibt es noch welche, die in einer Nische des Katholischen weiter wirken und glauben können, und welche, die in einer inneren Emigration leben.

All diese Ausdrucksformen haben ihre Berechtigung und Begründung.

Ich selbst suche noch nach dem richtigen Modus, den richtigen Worten für mein Katholischsein. Manchmal sage ich ganz überzeugt: »Ich bin getauft und gehöre zum Volk Gottes, zur Gemeinschaft der Gläubigen. Das kann mir eine weltliche Instanz auch nicht nehmen, egal was das Steuer- und Kirchenrecht dazu sagen.«

Mein Katholischsein fühlt sich dann sehr frei und unabhängig an. In anderen Zeiten fühle ich mich einfach abgeschlagen, enttäuscht und wütend, weil es so schwer ist, zur katholischen Kirche zu gehören.

Gefühl der Verlorenheit

Zu meinem Katholischsein gehört deshalb momentan ein Gefühl der Verlorenheit, der Obdachlosigkeit. Als Kind, Jugendliche und junge Erwachsene fühlte ich mich einfach auf Reisen, wenn es um das Ausleben meiner Spiritualität ging. Der Grund ist einfach: Früher habe ich mich wenig für die Kirchenpolitik interessiert, meine Gottesbeziehung war erstaunlich stabil, ohne dass sich damit ein fester Ort verbunden hat. Gottesdienste habe ich dort besucht, wo mir der Predigtstil gefallen hat. Gebetet habe ich mit denen, die mir ähnlich gewesen sind. Katholischsein hat damals Gottesdienstbesuch, Seelsorge und Gemeinschaft auf Zeit bedeutet.

Alle Ausgrenzungs- und Entmutigungserfahrungen habe ich integrieren können, solange die guten Erfahrungen und die biografischen Reifungsprozesse, die ich im kirchlichen Rahmen erlebt habe, überwogen haben.

Diese Waage ist langsam, unauffällig gekippt.

Das Gefühl, eine freie Reisende zu sein, ist dem Gefühl gewichen, im Katholischen kein Obdach mehr zu finden. Ohne festen Wohnsitz zu sein, ohne den Safe Space, an den ich jederzeit zurückkehren kann, ohne ein eigenes Bett, ohne Adresse. Es hat zuvor kein Auszug mit einem Möbelunternehmen stattgefunden, es gibt kein Datum, an dem ich obdachlos wurde.

Das Obdachlossein fällt mir im Alltag nur wenig auf: Die meiste Zeit fühle ich mich unter freiem Himmel frei und zufrieden.

Ich trage meine katholischen Habseligkeiten immer bei mir. Wer mich nach meinem Glauben fragt, bekommt eine hoffnungsvolle Antwort.

Aber es gibt auch die Phasen, in denen es sich anfühlt, als ob ich in der Fußgängerzone auf dem Boden sitze, und keinen interessiert’s – Phasen, in denen ich nicht die Kraft habe, meine sieben Sachen selbst zu tragen. Phasen, in denen ich mich warm und sicher verkriechen möchte. Das sind die Phasen, in denen ich wütend über das institutionelle Versagen bin, über die Langsamkeit bei den Reformen, über die Beharrungskräfte und über das Verächtlichmachen der christlichen Botschaft – alles zugunsten einer vermeintlichen Wahrheit, die nichts dazulernen will.

Heimat, aber kein Zuhause mehr

Die römisch-katholische Kirche ist Heimat, aber kein Zuhause mehr. Dabei hätte sie alles Potenzial dazu, Menschen ein passendes Zuhause anzubieten. Sie bräuchte nur im Sinne des Evangeliums handeln: radikal menschenfreundlich.

So einfach lässt sich das existenzielle Dilemma zusammenfassen, in dem ich mich gemeinsam mit vielen Menschen befinde.

Ich wünsche mir – ganz plakativ gesprochen –, dass ich als Gläubige nach Hause kommen, die Tür aufschließen, »Hallo« rufen, den Rucksack in die Ecke schmeißen, und erst mal die Beine hochlegen könnte. Wie in einem Zuhause würde ich natürlich auch vieles andere tun: Essen, Gastgeben, Schlafen, Putzen, Streiten, Lachen, Arbeiten …

Sie wissen selbst am besten, was Sie mit Ihrem Zuhause verbinden.

Weil ich inzwischen weiß, dass die offizielle Kirche nicht in der Lage dazu ist, dieses Zuhause auf die Schnelle zu werden, bin ich unterwegs. Ich glaube, dass mein Katholischsein ein neues kirchliches Zuhause braucht – eines, das ich aufbauen muss, eines, in dem auch andere zu Hause sein könnten.

Obdachlos katholisch

Buch Obdachlos katholisch

Der vorliegende Text stammt aus dem Buch »Obdachlos katholisch. Auf dem Weg zu einer Kirche, die wieder ein Zuhause ist«.

Kösel Verlag, 2023
Klappenbroschur, 208 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-466-37295-9


Foto der Autorin: © Melisa Balderi


Regina Laudage-Kleeberg

Sie liebt das Anders-Sein und das Anders-Werden von Menschen, Systemen und Organisationen. Das Anders-Sein hat sie geprägt: als Rheinländerin in Franken, als Deutsche in Istanbul. Sie ist das vierte von sechs Geschwistern und hat selbst drei Kinder. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Münster, arbeitet mit Begeisterung im Change Management und schreibt für ihr Leben gern. Zuletzt erschienen ist das Buch »obdachlos katholisch«.

Foto: © Melisa Balderi

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