Klaus Mertes SJ Kolumne

MERTES’ MEINUNG

Versöhnung ist ein steiniger Weg

Wie es Joe Biden gelingen könnte, die Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft zu überwinden

Wer politischen Erfolg haben will, muss spalten. Das ist Donald Trump zur Genüge gelungen. Joe Biden sprach nach seiner Wahl von Einigkeit und Versöhnung. Dazu braucht es eine Vision, mit der er sich aber Feinde machen wird.

Donald Trump wird bis zum letzten Tag darauf beharren: „Ich wurde um meinen Wahlsieg betrogen.“ Millionen von Wählerinnen und Wählern werden weiterhin daran glauben, bis zu den nächsten Wahlen. Die Welle wird groß genug bleiben, um einen neuen Surfer zu finden, der dann auf ihr reitet.

Wie konnte es soweit kommen? Eine Antwort finde ich mit dem Blick auf die Geschichte von Roger Ailes, dem Gründer von Fox-News. Lange nämlich bevor Trump in aller Munde war, erfand er die Zauberformel: Wer politischen Erfolg haben will, muss spalten; die Macht gewinnt, wer über die Unterscheidung von Freunden und Feinden entscheidet.

Und wie macht man das? Ganz einfach: Man muss ein Ressentiment aufgreifen, das schon da ist, um es zu verstärken. Niemand, der oder die politisch erfolgreich sein will, ist frei von der Versuchung, so zu denken.

Joe Biden sprach in seiner Siegesrede am 8. November 2020 von Einigkeit und Versöhnung. Wie geht das, ohne umgekehrt an Ressentiments anzuknüpfen, die sich nach Jahrzehnten der Vergiftung durch das Freund-Feind-Denken verfestigt haben? Vermutlich nur, wenn man die taktische Ebene verlässt und mit einer Vision voranschreitet, für die man gegebenenfalls riskiert, sich aus allen Milieus Feinde zu machen. Es werden dann einige aus dem „Biden-Lager“ sagen, dass nun sie es sind, die sich um ihren Wahlsieg betrogen fühlen. Aber so ist das eben: Versöhnung ist ein steiniger Weg.

Ich schaue mit Spannung auf die kommenden Monate in den USA und hoffe, dass wir da auch etwas für unsere hiesigen Verhältnisse lernen können. Denn ganz so anders sind sie bei uns ja auch nicht.


Klaus Mertes

Als Klaus Mertes, geb. 1954, noch nicht wusste, dass er eines Tages Jesuit, Lehrer und Kollegsdirektor werden sollte, hatte er eigentlich zwei Berufswünsche: Entweder in die Politik gehen und Reden halten, oder an die Oper gehen und als Tristan in Isoldes Armen sterben. Rückblickend lässt sich sagen: Als katholischer Priester kann man beides gut kombinieren: Öffentlich reden und öffentlich singen. Die Jugendlichen, die Eltern, die Kolleginnen und Kollegen in den Schulen und alles, was so im Lebensraum Schule und Internat anfallen kann, halfen ihm, vor den großen Fragen nicht zurückzuschrecken und zugleich bei den Antworten nach Möglichkeit nicht abzuheben. Seit Sommer 2020 hat er den Schuldienst nun verlassen und ist seitdem vor allem publizistisch und seelsorglich in Berlin tätig.

Foto: Wolfgang Stahl

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