GENTNERS MEINUNG

Steht die Geschlechtergerechtigkeit auf der Kippe?

Wir waren in Deutschland schon weiter

Es gibt gesellschaftliche „Projekte“, die sich über Jahrzehnte zum Besseren hin entwickeln – und dann praktisch über Nacht zusammenbrechen. Seit über 30 Jahren ist für mich Geschlechtergerechtigkeit eine Vision, für deren Umsetzung ich mich engagiere. Frauen und Männer sollen gleichermaßen die Möglichkeit haben, sich in der Familie einbringen und ihren Berufen nachgehen können. Und dabei auch noch gleich viel verdienen.

So mühsam Diskussionen oft waren: Es hat sich einiges in den letzten Jahren verändert. Beispielsweise nehmen mehr Väter die Elternzeit in Anspruch oder gehen in Teilzeit. Mütter und Väter profitieren von flexibleren Arbeitsmodellen für eine gute Work-Life-Balance und mehr Präsenz in der Familie. Mit Familienfreundlichkeit punkten Unternehmen bei Beschäftigten und beim Rekrutieren von Fachkräften.

Das mag für manche so klingen, als haben die Gesetzgebungsmaßnahmen und Regelungen durchschlagenden Erfolg in Deutschland. Aber das wäre zu voreilig und ist weit gefehlt.  

Deutschland, ein Traumland?

Im Jahr 2020 waren immer noch nur rund 28 Prozent der Führungspositionen von Frauen besetzt; im Vergleich zum Vorjahr zwei Prozentpunkte weniger. Deutschland bewegt sich damit  in der Europäischen Union im unteren Drittel. 91 Prozent der Bürgermeister in Deutschland sind männlich, der Frauenanteil stagniert. Dazu sinkt der Anteil an Frauen in der Kommunalpolitik seit Jahren. Die Gründe dafür sind längst analysiert. Wir haben seit Jahrzehnten Gesetze, Maßnahmen, bewusstseinsbildende Prozesse, um Gerechtigkeit voranzubringen. Der verfassungsrechtlich gesicherte Anspruch der Gleichberechtigung von Mädchen und Frauen, Jungen und Männern (vgl. GG, Art. 3) ist in der Praxis in vielen gesellschaftlichen Teilbereichen noch nicht vollständig erreicht.  

Doch dann kam Corona. Und machte das Ungleichgewicht noch schlimmer. Über Nacht ist Fürsorgetätigkeit wieder primär Frauensache geworden: Homeoffice, Betreuung der Kinder, Homeschooling, Haushalt. Verschärfend kam hinzu, dass es in vielen Erwerbstätigkeiten, oftmals „geschlechtertypischen“ Berufen, keine Möglichkeit für mobiles, digitales Arbeiten gibt.

Um es überspitzt zu sagen: Die hart erkämpfte Vielfalt an Rollen von Frauen in unserer Gesellschaft war für viele binnen weniger Wochen komplett eingedampft – auf die Rolle als Frau zuhause in der Familie. „Frauen sind die Verliererinnen der Pandemie“, so brachten die Zeitungen das Drama auf den Punkt.

Der EU-Ministerrat in Brüssel fordert zu Jahresbeginn Schritte für gleiche Teilhabe am Arbeitsmarkt: gerechte Verteilung und vielfältige Lebensentwürfe ermöglichen. Ein weiteres Ziel: Maßnahmen zu treffen, die Frauen und Männern gleiche Chancen bei der persönlichen wie beruflichen Entwicklung gewährleisten und die gleichberechtigte Verteilung von unbezahlter Sorgearbeit auf die Geschlechter zu fördern.

Ich hoffe, diese Anstrengungen sind mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein und wirken einer Verstetigung einer überholt anmutenden Rollenverteilung entgegen.

Wir müssen wieder ein Ziel finden

Warum übernehmen viele Männer nicht mehr Sorgearbeit in den Pandemiezeiten? Wieso bekommen Väter, die Care-Arbeit leisten, besondere Wertschätzung – während das bei Frauen als Selbstverständlichkeit durchgeht? Weshalb wird es gesellschaftlich hingenommen, dass die weibliche Geschlechterrolle wieder so traditionell geprägt wird?

Damit Geschlechtergerechtigkeit keine Utopie sondern eine Vision in der Umsetzung ist, brauchen wir wieder konkrete Ziele. Nur wer ein starkes Bild von Gesellschaft hat, kann auch dafür einstehen und jetzt schon die Gegenwart so gestalten, dass wir auf eine bessere Zukunft zusteuern.

Es sind einzelne Aufbrüche, die dazu einen Beitrag leisten. Männer begreifen beispielsweise, dass es darum geht, nicht hinterfragte Privilegien aufzugeben und beginnen, mit Frauen zu teilen.

Aber wir müssen auch eingefahrene Denkmuster aufbrechen: Weshalb wird immer noch eine Mutter gefragt, wer die gemeinsamen Kinder betreut, während sie arbeitet, aber nicht automatisch der Vater? Es sind solche fatalen Automatismen, die Strukturen zementieren. Denn so lange die Strukturen sind, wie sie sind, fliegt Care-Arbeit leider automatisch den Frauen zu.

Wir haben Rechte, aber noch keine Gerechtigkeit. Deshalb braucht es eine klare Haltung, Solidarität und Entschlossenheit. Und was ich für den Weg zu einer geschlechtergerechten Gesellschaft für zwingend halte: Es darf kein Vorhaben werden, für das sich nur die eine Hälfte der Gesellschaft interessiert.

Wir müssen den Weg gemeinsam gehen. Männer und Frauen – in all ihrer Vielfalt und mit all ihren Stärken.


Ulrike Gentner

ist Theologin und Pädagogin mit jahrzehntelanger Erfahrung in der Erwachsenenbildung. Als stellv. Direktorin des Heinrich Pesch Hauses und Direktorin Bildung prägt sie die Katholische Akademie Rhein-Neckar. Zugleich leitet sie das Zentrum für Ignatianische Pädagogik, das Schulen im deutschsprachigen Raum berät und Leitungs- und Fachkräfte qualifiziert. Sie ist Trainerin für Leadership und Organisationsentwicklung, Referentin für ignatianische Spiritualität und Pädagogik sowie Autorin von Publikationen zu Politischer Bildung, Didaktik und Spiritualität.
heinrich-pesch-haus.de

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