Einige Gedanken anlässlich der Causa Aiwanger
Egal, ob Hubert Aiwanger den wirklich abscheulichen Text selbst verfasst, verbreitet oder den Autor durch Einsammeln der Texte „nur“ gedeckt hat. Er war siebzehn und ist meines Wissens seither nicht mehr als Antisemit aufgefallen. Macht einen eine einmalige Entgleisung lebenslang zum Antisemiten und disqualifiziert einen für das Ministeramt? Eine große Koalition beginnend bei der SZ über den Kanzler bis zu Markus Söder scheinen sich da einig zu sein. Ernsthaft? Aus meiner Sicht müssen wir – gerade weil digitale Medien kein Vergessen kennen – neu vereinbaren, wie wir mit dem Bekanntwerden von Verfehlungen aus der Vergangenheit umgehen. Sonst schaffen wir neues Unrecht.
Ich meine, Menschen haben das Recht, im Laufe ihres Lebens klüger zu werden, oder – wir wollen optimistisch sein – bestenfalls sogar bessere Menschen.
Mich berührt mehr die juristische Distanziertheit, mit der der sonst wortgewaltige Herr Aiwanger – jedenfalls in den mir zugänglichen Medien – auf das Bekanntwerden des Flugblattes reagiert. Ja, er erachtet den Text, der „lebenslangen Aufenthalt im Massengrab“ oder einen „Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ als Preis für den größten Landesverräter auslobt, für ekelhaft und menschenverachtend.
Aber da ist kein Bedauern spürbar oder Entsetzen zum Beispiel darüber, was der Text jetzt gerade bei Nachfahren von Holocaustopfern und jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern anrichtet, die wieder einmal mit einer antisemitischen Scheußlichkeit und der Verhöhnung der ermordeten Opfer des braunen Terrors konfrontiert sind.
Pflicht zur Mitmenschlichkeit und Fürsorge verletzt
Diese kühle Distanz, die sich in der Auseinandersetzung mit unserer Geschichte auf das nötigste Minimum beschränkt, ist das nicht, was bis heute im Umgang mit unserer Geschichte schiefläuft? Das Gedenken und die daraus erwachsende Verpflichtung, nie wieder Antisemitismus zu tolerieren, werden als justiziable Pflichtschuldigkeit abgehakt, kühl und distanziert. Verletzt wird damit die Pflicht zur Mitmenschlichkeit und zur Fürsorge für die Mitmenschen. Ein Minister ist Diener des Staates und seiner Menschen. Ihm würde diese Pflicht zur Fürsorge in seiner Kommunikation besonders anstehen. Die Kommunikation rund um die Causa Aiwanger dreht sich stattdessen ausschließlich um den Machterhalt.
Helmut Aiwanger, der Bruder, stellt klar, er habe das Flugblatt nicht verfasst, um Nazis zu verherrlichen, sondern aus Frust und als Provokation gegen die Schule. Und auch Hubert Aiwanger gab später wenig Anlass zu glauben, er selbst sei ein Antisemit. Das macht die Sache aber nur bedingt besser: Denn auch heute geht Hubert Aiwanger verbal über Grenzen, die in Ordnung sind. Er kriminalisiert Klimaaktivisten und postuliert, eine schweigende Mehrheit müsse sich die Demokratie zurückholen. Dabei bedient er sich im rhetorischen Arsenal rechter Populisten.
Aiwanger ist damit sicher nicht der Einzige, gerade in Bayern. Und seine Zustimmungswerte zeigen, wie viele Menschen seine Zuspitzungen für eine legitime Form der politischen Folklore halten, egal wie viele Nazis mitklatschen. Hauptsache, „wir haben es denen da mal richtig gezeigt“.
Damit aber werden Sprachfiguren aus dem Raum antidemokratischer und eben auch antisemitischer Bewegungen in die Mitte der Gesellschaft geholt und erhalten einen Anschein von Normalität. Das ist die eigentliche Causa Aiwanger. Und sie ist im Kern eben nicht nur eine Causa Aiwanger. Hubert Aiwanger ist nur zum Vorbild geworden.
Einer, von dem wir alle lernen sollten, wie wir es nicht machen, und was wir nicht tolerieren sollten. Es ist an den Wählern, endlich allen die rote Karte zu zeigen, die so agieren.