Klaus Mertes SJ Kolumne

HIER SCHREIBT KLAUS MERTES

»Kriegsverbrecher, Nazi, Jude«

Eine gefährliche Vermischung von Propaganda

Ich lauschte in der U-Bahn einem Gespräch. Drei Männer und zwei Frauen erhitzten sich lautstark über den „Kriegsverbrecher Selenskyj“. Die Formulierung ließ mich aufhorchen, zumal die Zuschreibung „Kriegsverbrecher“ zu anderen Zuschreibungen über- und dann wieder zurücksprang, etwa „der Jude Selenskyj“, oder auch „der Nazi Selenskyj“. Seitdem lässt mich dieser Dreiklang der Zuschreibungen nicht mehr los.

Wir haben nach dem 7. Oktober 2023 den eliminatorischen Antisemitismus der Hamas erlebt, und dass er bis auf die Straßen in Deutschland Widerhall findet. Aber es gibt einen anderen, ebenfalls eliminatorischen Antisemitismus. Er erhebt sein hässliches Gesicht im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Von Anfang gehörte es zur russischen Propaganda, von einer „Entnazifizierung der Ukraine“ zu tönen. Dass der ukrainische Präsident selbst einer jüdischen Familie entstammt, spielte für die Propagandisten keine Rolle, und auch nicht, dass unter Selenskyjs Vorfahren mehrere Personen Opfer des Holocaust wurden und andere auf Seiten der Roten Armee gegen Nazi-Deutschland kämpften. Die Propaganda packt das einfach alles zusammen: Selenskyj, der jüdische Nazi …

Wie Antisemitismus legitimiert wird

Die Gleichsetzung von Juden und Nazis ist wiederum eine besonders perfide Figur, um Antisemitismus zu legitimieren. Judenhass hat in Russland und insbesondere in der russischen Orthodoxie tiefe Wurzeln und ist dort nie wirklich aufgearbeitet worden. So kann dann auch der Angriff auf die Ukraine von der Propaganda in die Tradition des „großen vaterländischen Krieges“ gegen Nazi-Deutschland gestellt werden. Gegen Nazis und gegen Juden zugleich. Das alles verfängt in Russland, so wie in anderen Kreisen das ungeheuerliche Gerede von den „50 Holocausts“ (Mahmud Abbas) verfängt, die Israel in Palästina begehe. Auch hier: Die Juden sind die eigentlichen Nazis.

Zurück zum Gespräch in der U-Bahn: Vielleicht ist es diese Erkenntnis, die mich nicht loslassen will, seit ich mir die erregte-moralisierende Anhäufung von Zuschreibungen auf die Person Selesnkyj – der Kriegsverbrecher, Nazi, Jude – anhören musste, ohne weghören zu können:

Es gibt nach wie vor in Deutschland einen lebendigen Antisemitismus, der nicht aus arabischen Ländern „importiert“ ist, sondern der genuin deutschen Ursprungs ist. Er erhebt wieder schamfrei sein Gesicht. Ich hätte das vor zwei Jahren noch für unmöglich gehalten.


Klaus Mertes

Als Klaus Mertes, geb. 1954, noch nicht wusste, dass er eines Tages Jesuit, Lehrer und Kollegsdirektor werden sollte, hatte er eigentlich zwei Berufswünsche: Entweder in die Politik gehen und Reden halten, oder an die Oper gehen und als Tristan in Isoldes Armen sterben. Rückblickend lässt sich sagen: Als katholischer Priester kann man beides gut kombinieren: Öffentlich reden und öffentlich singen. Die Jugendlichen, die Eltern, die Kolleginnen und Kollegen in den Schulen und alles, was so im Lebensraum Schule und Internat anfallen kann, halfen ihm, vor den großen Fragen nicht zurückzuschrecken und zugleich bei den Antworten nach Möglichkeit nicht abzuheben. Seit Sommer 2020 hat er den Schuldienst nun verlassen und ist seitdem vor allem publizistisch und seelsorglich in Berlin tätig.

Foto: Wolfgang Stahl

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