Klaus Mertes SJ Kolumne

MERTES’ MEINUNG

„Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist“

Was ich mir für das neue Jahr wünsche

„Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist“. So zitiert das ZEIT-MAGAZIN in seiner Weihnachtsausgabe den Physik-Nobelpreisträger Niels Bohr, und druckt anschließend sieben wunderbare Geschichten von Rettung und Heilung ab, die über das hinausgehen, was sich auf bloße Erklärungen reduzieren lässt. Man kann solche Berichte als Erinnerungen an Ausnahmeereignisse lesen, die für den Alltag der allermeisten Menschen bedeutungslos sind, oder man kann aus ihnen Zuversicht schöpfen für das eigene Leben, für das, was man im neuen Jahr auch erhoffen kann. Ich entscheide mich für das Letztere.

Es kommt nämlich durchaus auch auf den Blick an, mit dem man auf Ereignisse schaut. Wer keine Wunder sehen will, sieht auch keine. Daraus lässt sich zwar nicht schließen, dass Wunder deswegen geschehen, weil man sie sehen will. Aber wer ausschließt, dass sie geschehen, hat sich eben auch entschieden, sie nicht sehen zu wollen, wenn sie geschehen. Und da gilt dann durchaus die Umkehrung: Wunder geschehen nicht deswegen nicht, weil man sie nicht sehen will.

Das Wunder, dass ich für das kommende Jahr erhoffe, ist das Wunder der Überwindung von Spaltungen, das Wunder der Versöhnung.

In diesen Tagen ist Desmond Tutu gestorben, ein Zeuge der Versöhnung in dem von der Apartheid zerrissenen Südafrika, der letzte aus der Generation von Nelson Mandela und Frederik de Klerk. Ich lasse mich nicht ablenken und entmutigen von der Tatsache, dass Leute wie Jacob Zuma auf diese Generation der Versöhner folgten. Unvergessen ist der Tag, an dem Nelson Mandela auf dem Balkon des Rathauses von Kapstadt nach 36 Jahren Haft nicht von Vergeltung, sondern von Überwindung des Hasses und von Versöhnung sprach. Das konnte gelingen, weil hier ein Mensch sprach, der selbst jahrzehntelang Opfer von Rassenhass war.

Vergleichbares gilt für Personen wie den Journalisten Antoine Leiris, dessen Frau 2015 Opfer des Attentates auf den Pariser Club Bataclan wurde. Er schrieb einen Brief an die Täter mit dem Titel: „Meinen Hass bekommt ihr nicht.“ Oder ich denke an eine türkische Freundin, die sich hier in Deutschland aus politischen Gründen vor Erdogans Häschern verstecken muss. Sie sagte mir: „Wenn ich Erdogan zu hassen beginne, dann hat er gesiegt.“

Hass überwindet man nicht, indem man sich moralisch erhebt.

Das Wunder sehen

Klar, dem Hass muss die Stirn geboten werden. Wer wie in diesen Tagen Personen des öffentlichen Lebens mit Mord bedroht, darf kein freundliches Verstehen erwarten, sondern vielmehr eine klare Antwort des Rechtsstaates. Aber Hass ist gerade deswegen so gefährlich, weil er ansteckend ist. Mit Brecht wissen wir: „Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser. Ach, wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht freundlich sein.“

Deswegen hilft der Blick auf Personen wie Tutu, Mandela, Leiris oder die türkische Freundin, denen dies gelungen ist – freundlich bleiben als Voraussetzung dafür, den Boden für Freundlichkeit zu bereiten. Sie erfuhren Hass am eigenen Leibe, ließen sich von dem Hass aber nicht anstecken.

Das zu sehen bedeutet, Wunder zu sehen, mit heilenden Wirkungen für Seele und Körper, Realismus nicht nur im Sinne von Niels Bohr, sondern auch im Sinne des Evangeliums. Wer solche Geschichten im kommenden Jahr erlebt, möge sie uns melden, damit wir sie weiter erzählen können.


Klaus Mertes

Als Klaus Mertes, geb. 1954, noch nicht wusste, dass er eines Tages Jesuit, Lehrer und Kollegsdirektor werden sollte, hatte er eigentlich zwei Berufswünsche: Entweder in die Politik gehen und Reden halten, oder an die Oper gehen und als Tristan in Isoldes Armen sterben. Rückblickend lässt sich sagen: Als katholischer Priester kann man beides gut kombinieren: Öffentlich reden und öffentlich singen. Die Jugendlichen, die Eltern, die Kolleginnen und Kollegen in den Schulen und alles, was so im Lebensraum Schule und Internat anfallen kann, halfen ihm, vor den großen Fragen nicht zurückzuschrecken und zugleich bei den Antworten nach Möglichkeit nicht abzuheben. Seit Sommer 2020 hat er den Schuldienst nun verlassen und ist seitdem vor allem publizistisch und seelsorglich in Berlin tätig.

Foto: Wolfgang Stahl

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